Das Bundesinstitut für Bau‑, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in Bonn und das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) in Dresden haben in einem Kooperationsprojekt ein Diskussionsangebot für eine breite Öffentlichkeit erarbeitet, das sowohl als Buch als auch als Ausstellung seit Ende 2021 seine Kreise zieht. 30 Autorinnen und Autoren haben sich dafür mit grundsätzlichen Fragen des Landschaftswandels und seiner Visualisierung, mit der Siedlungs- und der Energieinfrastruktur, mit den Freiraumlandschaften sowie mit dem Wandel zum sogenannten Urbanozän auseinandergesetzt. Diese Texte sind jeweils kurzgefasst, kommen mit einem überschaubaren wissenschaftlichen Anmerkungsapparat sowie wenigen eingestreuten Karten und Grafiken aus. In erster Linie lebt das Projekt aber von meist ganzseitigen, querformatigen Luftbildern, die aus halber Höhe, also aus der Vogelperspektive, aufgenommen worden sind. Diese Fotografien zeigen Landschaftseindrücke in einer großen Streuung über weite Teile des Bundesgebiets, die nicht – wie häufig in anderen Bildbänden – mit einer touristischen Intention aufgenommen worden sind, sondern als dokumentarische Zeugnisse eines über die Bildunterschriften datierten konkreten Zustandes der Erdoberfläche zu verstehen sind. Die zumeist aus den Jahren 2019 bis 2021 stammenden Motive sind bewusst so gewählt, dass ein realistischer Eindruck von den verschiedenen Flächennutzungsarten sowie den daraus resultierenden Erscheinungsbildern vermittelt wird. Dabei sind die erfahrenen Bildautoren Jürgen Hohmuth und Marcus Fehse exemplarisch vorgegangen. Die Aufstiegsorte des Luftschiffes bzw. der Drohnen sind nicht gleichmäßig über Deutschland verteilt. Während es bei den Aufnahmen Ballungen in und um Berlin, um Dresden, um Frankfurt am Main und im Rheinland gibt, sind große Teile von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und Schleswig-Holstein nicht erfasst worden. Den Mut zur räumlichen (und damit in Teilen auch zur thematischen) Lücke hatten die Bildautoren und Herausgeber also.
Der enorme Flächenverbrauch, der sich in Mitteleuropa seit Beginn der Industrialisierung immer mehr beschleunigt hat und in den kommenden Jahren mit der laufenden Energiewende nach allen Prognosen noch weiter zunehmen wird, ist das eigentliche Thema dieses Bandes. Auch wenn, wie im Geleitwort zu lesen ist, nur 14 Prozent der Gesamtfläche von Siedlungen und Verkehrsinfrastruktur eingenommen werden, so ist doch bereits jetzt mehr als ein Drittel des Bundesgebiets von technischer Infrastruktur geprägt. Diese Tatsache tritt dem Betrachter bzw. der Betrachterin der qualitativ hochwertigen Fotografien in der vorliegenden Veröffentlichung ungeschönt vor Augen. Der spezielle Winkel, in dem die Bilder aufgenommen worden sind, erfasst meist auch den Horizont so, dass eine Vorstellung von einem ganzheitlicheren Landschaftseindruck vermittelt wird, als dies mit Orthofotos, Satellitenbildern oder auch Karten möglich ist. Bergbaufolgeareale, Industrie- und Gewerbegebiete, Stromtrassen, Windkraft‑, Solar- und Biogasanlagen sowie das Netz aus Straßen und Bahntrassen sorgen dafür, dass davon ungestörte, vermeintlich harmonische Agrar- oder Waldlandschaften in dieser Publikation ebenso wie in der erlebten Realität bei der Bewegung im und durch den Raum zu den Ausnahmen gehören. Die Transformation unserer Umwelt, nicht zuletzt durch den Klimawandel und seine zunehmenden gesellschaftlichen Folgen, wird in den zwischen den Fotografien eingestreuten Beiträgen beschrieben und erläutert, wobei sowohl fachlich wie auch räumlich ganz unterschiedliche Blickwinkel gewählt werden. Neben übergreifenden Fragestellungen gibt es auch kleinräumige Betrachtungen. Eine direkte Bezugnahme aus den Texten auf die im Umfeld stehenden Fotografien erfolgt in der Regel nicht. Einige der thematischen Karten erreichen leider nicht immer das qualitative Niveau der Luftbilder, was sowohl an der Größe der Kartendarstellungen – und damit der Lesbarkeit der Legenden (z. B. S. 292 im Vergleich mit S. 293) – als auch an der unsicheren Zuordnung mancher Legendeninhalte zum jeweiligen Kartenbild liegt (z. B. S. 210, 251 oder 347). Auch wäre ein Ortsregister bei dieser Publikation für die Benutzung in jeder Hinsicht hilfreich gewesen.
Der „nicht vollständige Überblick“ von Wendelin Strubelt auf den Seiten 51-81 über die „Gestalt des Raumes in Fotobildbänden“ erinnert mit seiner anschaulich formulierten Beschreibung der Entwicklung dieses Genres in den zurückliegenden gut 100 Jahren daran, dass die Themen im vorliegenden Band häufig ihre Wurzeln in klassischen Veröffentlichungen der geographischen Landeskunde haben, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten nicht nur von Vertretern der Historischen Geographie herausgegeben worden sind. Es ist das Verdienst des BBSR und des IÖR, derartige Traditionslinien aufgegriffen und in einem aktuellen Kontext aufbereitet zu haben. Nach dem Band „Der gebändigte Raum“, der 2010 mit Fotos von Jürgen Hohmuth erschienen war, ist jetzt mit „Der Gestalt des Raumes“ ein weiteres dokumentarisches Zeugnis über den Wandel der vergangenen Jahre und den aktuellen Zustand der Landschaften in der Bundesrepublik erschienen. Die Rezeption beider Bände wird für nachfolgende Generationen viel über unseren Umgang mit der Ressource Landschaft und unser Problembewusstsein hinsichtlich der grassierenden Flächenversiegelung aussagen.