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https://doi.org/10.14512/rur.1707
Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning (2023) 81/1: 83–85
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Rezension / Book review

Werner, Oliver (2022): Wissenschaft ‚in jedem Gewand‘? Von der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ zur „Akademie für Raumforschung und Landesplanung“ 1935 bis 1955

Harald Kegler Contact Info

(1) Lehrgebiet Planungsgeschichte, Universität Kassel, Gottschalkstraße 22, 34127 Kassel, Deutschland

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E-Mail: harakld.kegler@uni-kassel.de

Eingegangen: 17. Januar 2023  Angenommen: 30. Januar 2023  Online veröffentlicht: 10. Februar 2023


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Mit dem vorliegenden Buch hat auch die ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (bis 2020 Akademie für Raumforschung und Landesplanung) ihre eigene Entstehungsgeschichte, die wesentlich mit dem Nationalsozialismus verbunden ist, aufgearbeitet. Dabei steht aber nicht nur die Entstehungszeit ab 1935 im Mittelpunkt, sondern vor allem die Neugeburt in der jungen Bundesrepublik, die mit einer starken Kontinuität zur Gründungszeit im Nationalsozialismus, insbesondere in personeller Hinsicht, geprägt war. Das von Oliver Werner, einem ausgewiesenen Historiker, geschriebene Buch erfüllt in jeder Hinsicht die an eine solche Aufarbeitung geknüpften Erwartungen. Es ist fundiert und von enormer Detailkenntnis. Nun dürfte es aber kaum überraschen, dass es in Westdeutschland jene Kontinuitäten in der personellen Besetzung der Institution zwischen dem NS-Staat und der entstehenden BRD gegeben hat, traf dies doch auf sehr viele relevante Bereiche der Gesellschaft zu. In dieser Hinsicht reiht sich die ARL würdig in die Liste der Institutionen ein, die nahezu bruchlos aus dem „Dritten Reich“ hervorgegangen waren und den Neubeginn des demokratischen Gemeinwesens Bundesrepublik mitgestalteten, was allein schon bemerkenswert ist, aber für die Aufarbeitung eine Herausforderung gewesen sein muss. Diese konstitutive Ambivalenz der ARL wird gleichsam im Titel des Buches vom Autor gesetzt und durch das Fragezeichen auch zur Diskussion freigegeben. Erst der Untertitel verrät, um welchen ‚Gegenstand‘ es sich handelt. Damit wird ebenfalls von der Singularität der ARL als Institution ein Rückschluss auf verallgemeinerbare Prozesse in der BRD ermöglicht.

Nachdem die ‚Schwester‘ der ARL, die DASL, die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung, ihre 100-jährige Geschichte jüngst bearbeitet und in einem zweibändigen Werk veröffentlicht hatte (Düwel/Gutschow 2019; Jessen/Reiß-Schmidt 2022), liegt nun auch für die jüngere „Raum“-Akademie, die ARL, eine wissenschaftliche Arbeit vor, die sich der brisanten ersten 20 Jahre ihrer Entwicklung widmet. Im Unterschied zur DASL bestand also nicht die Absicht, eine Gesamtgeschichte vorzulegen, sondern sich der Zeit zwischen 1935 bzw. der damals zunächst als „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ (RAG) titulierten Institution und der Etablierung als Akademie in der jungen BRD (bis 1955) zuzuwenden. Der historische Bezugspunkt für das Buch ist der seinerzeit spektakuläre Kongress der ARL in Hannover im Jahr 1960 anlässlich des 25. Gründungsjubiläums. „25 Jahre Raumforschung in Deutschland“ betitelten die damaligen Akteure ganz unbescheiden diesen Kongress und erhoben damit zugleich einen gewissen Alleinvertretungsanspruch auf diesem Gebiet, nicht ohne Hintergedanken, wollte man doch beweisen, dass diese neue Akademie nicht nur wichtig, sondern bereits in der etablierten Wissenschaft der bundesdeutschen Republik verankert war. Bis dahin hatte die ARL offenbar im System der Forschungseinrichtungen der BRD ihren Platz mühevoll errungen und ihre Selbstbehauptung durchgesetzt. Auffallend war die besondere personelle Kontinuität, denn die Schlüsselakteure, ein sehr treffender Begriff vom Autor, hatten größtenteils ihre Meriten im NS-System erworben, zum Teil in sehr prominenter Position, allen voran Konrad Meyer oder Kurt Brüning, die auch inhaltlich prägend waren für diese neue/alte Institution.

Die vorliegende Publikation setzt natürlich nicht beim Stand null an, sondern basiert auf Arbeiten, die gut 20 Jahre zurückreichen, worauf vom Autor eingangs ausdrücklich hingewiesen wird. An erster Stelle sei hier auf die bereits in den 1990er-Jahren begonnen Forschungen zum „Generalplan Ost“ oder auf die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) veranstaltete Ausstellung „Wissenschaft, Planung, Vertreibung – Der Generalplan Ost der Nationalsozialisten“ dazu verwiesen. So gibt es zwar eine mehrfache Befassung mit dem Thema seit dieser Zeit, jedoch im engeren Sinne liegt nun eine konsistente Forschung aus der Sicht der ARL selbst vor. Diese wurde von ihr 2016 initiiert und der Autor beauftragt, um sich der lange verdrängten und eher zögerlich angenommenen ‚dunklen‘ Geschichte ihrer Entstehung und personellen Besetzung aus der NS-Zeit zu widmen. Das vorliegende Resultat ist in historiografischer Hinsicht bemerkenswert und vermag die Debatte um die Aufarbeitung der Geschichte von Institutionen in der frühen BRD sehr zu bereichern.

Der Autor gliedert die als „Studie“ bezeichnete Schrift in zehn Hauptkapitel mit einem abschließenden Resümee, in welchem er eine übergreifende, wissenschaftshistorische Verortung umreißt und Ausblicke gibt. Die Hauptkapitel folgen dem historischen Werdegang der nach dem Krieg als „Akademie“ bezeichneten Institution jedoch nicht einfach als Abfolge von Ereignissen, sondern je akzentuiert und in den jeweiligen Kontext gesetzt. Dabei erlangen vor allem die Übergänge und die Rolle der handelnden Akteure sowie deren wissenschaftliche ‚Denkmuster‘ ein besonderes Gewicht in der Analyse und Wertung. Das macht den Text geradezu spannend. Bemerkenswert ist dabei, in welcher Weise die NS-Ideologie von „Rasse und Raum“ zunächst konstitutiv für die RAG wirkte und dann nach dem Krieg ‚abgeschliffen‘ wurde, ohne dass die Akteure sich grundlegend in ihrer Haltung änderten. Darin verbirgt sich ein Phänomen der Gründerjahre der BRD, das auch auf anderen Gebieten anzutreffen ist, hier aber prägnant in Erscheinung tritt.

Mit besonderem Interesse können die Kapitel zum Übergang nach 1945 und der Prozess der Etablierung als Akademie bis 1955 gelesen werden. Hier gelingt es dem Autor – quellengetränkt –, die beiden miteinander verwobenen Vorgänge der personellen Kontinuität und der Selbstbehauptung als Institution ab 1945 herauszuarbeiten und die Besonderheit dieser Vorgänge der ARL gegenüber anderen administrativen Institutionen darzustellen. Darin liegt ein besonderes Verdienst des Autors. Es ist nämlich auffallend, auf welche Weise die Protagonisten – natürlich nicht konfliktfrei – ihre „Selbstentnazifizierung“ (S. 169) unter anderem durch gegenseitiges Ausstellen von „Persilscheinen“ betrieben und damit sehr erfolgreich waren. Zum anderen musste der Nachweis erbracht werden, dass eine solche Institution wie die Akademie gebraucht wird für die Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik. Dies war umso bedeutsamer, da es ja in Bad Godesberg das staatlich getragene Institut für Raumforschung (IfR) gab, dessen Wurzeln auch in der RAG lagen (vgl. Kübler 2007: 316–317). Der Vorgang einer Selbstinszenierung als Akademie ist historisch sehr bedeutsam und verdient zurecht besondere Aufmerksamkeit. Dem Autor gelingt es, sehr plastisch diese Vorgänge nachzuzeichnen und entsprechend zu deuten. Denn es war keinesfalls sicher, dass eine neue Akademie in der föderalen BRD gebraucht würde, zumal es mit der DASL bereits eine vergleichbare Einrichtung gab. Diese hatte zwar auch ihre Verstrickung im NS-Staat zu verzeichnen, war aber eben ein Kind der Weimarer Republik und besaß mit Stephan Prager auch eine namhafte Person der Landesplanung als erstem Präsidenten nach 1945, der selbst als jüdischer Mensch wirkliches Opfer der NS-Diktatur gewesen war.

In der vorliegenden Schrift kann auf sehr anschauliche Weise nachvollzogen werden, mit welchen Mitteln und geschickten Manövern es den Hauptakteuren, allen voran Kurt Brüning, gelang, der Akademie Bedeutung zu geben und ihr einen Platz im akademischen System der BRD zu verschaffen. Dies war jedoch kein reibungsloser Vorgang. Mehrfach hing der Aufbauprozess ‚am seidenen Faden‘ und die Gefahr des Scheiterns war keineswegs gebannt. Erst nach 1955 konsolidierte sich die Akademie, was auch mit dem einsetzenden Prozess der wirtschaftlichen Erholung und des massiven Aufschwungs der ‚Wirtschaftswunderjahre‘ zusammenhing. Nun entstand ein relevanter Bedarf an räumlicher Ordnung, wofür die ARL spezielle Forschungsbeiträge beisteuern konnte und ihre gesellschaftliche Notwendigkeit nicht mehr grundsätzlich rechtfertigen musste.

Das Fazit seiner Forschungen, welchem hier unbedingt zugestimmt werden kann, beschreibt der Autor folgendermaßen: „Die hohe personelle und inhaltliche Kontinuität von der Reichsarbeitsgemeinschaft zur Akademie bei gleichzeitigen institutionellen Neuansätzen, die sich allerdings erst mit zeitlicher Verzögerung als innovatives Potenzial entpuppten, bilden den Kern der Erkenntnisse der vorliegenden Studie“ (S. 207). Es muss zudem als ein wichtiges akademisches Kulturgut angesehen werden, dass sich die ARL mit ihrer eigenen und ambivalenten Entstehungsgeschichte nicht nur konstatierend auseinandersetzt, sich also mit dem zeitlichen Abstand zur NS-Vergangenheit distanzierend verhält, sondern diese als Transformationsgeschichte für ihr eigenes Selbstverständnis heute kritisch fruchtbar macht. Das geht über eine ‚Aufarbeitung‘ hinaus. Die mehrdeutige Überschrift für das Resümee, die der Autor wählte, „Wissenschaft in Zeiten eines permanenten Ausnahmezustands“, kann unisono für die Entstehung und die Anpassung der Institution gelten. Damit unterstreicht die Akademie als Auftraggeberin die aktuelle Bedeutung dieser Forschung für ihr wissenschaftshistorisches Selbstverständnis. „Kollektives Schweigen, inhaltliche Umdeutung und die umfassende Selbstfreisprechung bilden eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Akademie“ (S. 210). Letztlich konstatiert der Autor, dass zunächst der „Erfolg der Akademie […] nur durch weitgehende Verleugnung der Ursprünge erreicht werden [konnte]“ (S. 210). Dies zu wenden, hat sich die Akademie heute mit dem nunmehr vorliegenden Buch vorgenommen. Es gehört zur Souveränität dieser Institution, sich heute dessen bewusst zu sein und mit der vorliegenden Publikation einen wichtigen Beitrag für das öffentliche Verständnis der Raumplanung und ihrer historischen akademischen Ambivalenz geleistet zu haben.

Der Rezensent empfiehlt die Lektüre nicht nur den Akademiemitgliedern. Das Buch ist gut lesbar, mit anschaulichen Abbildungen und einer sehr verdienstvollen Übersicht der Personen, die die ersten Dekaden der ARL bestimmten, versehen, dennoch nicht zu umfangreich. Darüber hinaus wurde damit ein fundierter Beitrag zur weiteren Erschließung der Wissenschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, gerade bezogen auf dessen brisante Phasen, für die raumplanenden Disziplinen geleistet.

Vollständige bibliographische Angaben des rezensierten Werkes:  
Werner, Oliver (2022): Wissenschaft ‚in jedem Gewand‘? Von der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ zur „Akademie für Raumforschung und Landesplanung“ 1935 bis 1955


Literatur

Düwel, J.; Gutschow, N. (2019): Ordnung und Gestalt. Geschichte und Theorie des Städtebaus in Deutschland 1922 bis 1975. Berlin.
 
Jessen, J.; Reiß-Schmidt, S. (2022): Stadtplanung und Politik. Die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung 1975 bis 2022. Berlin.
 
Kübler, A.: (2007): Chronik Bau und Raum. Geschichte und Vorgeschichte des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung. Tübingen.