© by the author(s); licensee oekom 2023. This Open Access article is published under a Creative Commons Attribution 4.0 International Licence (CC BY).
https://doi.org/10.14512/rur.1713
Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning (2023) 81/2: 203–205
rur.oekom.de

Rezension / Book review

Drilling, M.; Tappert, S.; Schnur, O.; Käser, N.; Oehler, P. (2022): Nachbarschaften in der Stadtentwicklung. Idealisierungen, Alltagsräume und professionelles Handlungswissen

Ralf Zimmer-Hegmann Contact Info

(1) ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung, Brüderweg 22-24, 44135 Dortmund, Deutschland

Contact InfoRalf Zimmer-Hegmann 
E-Mail: ralf.zimmer-hegmann@ils-forschung.de

Eingegangen: 7. Februar 2023  Angenommen: 10. Februar 2023  Online veröffentlicht: 2. März 2023


rur_1713_Figa_HTML.gif

Warum sich überhaupt nach rund drei Jahrzehnten wissenschaftlicher und politischer Beschäftigung mit nahräumlichen Entwicklungsprozessen in Nachbarschaften, Quartieren und Stadtteilen (in Deutschland) noch einmal grundlegend empirisch dezidiert mit der Nachbarschaft beschäftigen? Die Autorinnen und Autoren geben dazu in der Einleitung bzw. dem Vorwort zwei Antworten. Der Blick auf Nachbarschaft richte sich vor allem auf „das Soziale“ im Quartier (S. VI), also die nahräumlichen sozialen Interaktionen und den Wunsch nach sozialräumlicher Verankerung und Verortung. Allerdings hätten sich die Rahmenbedingungen von Nachbarschaft „entscheidend verändert“ (S. 12), etwa durch die Pluralisierung von Lebensstilen und neue, beispielsweise auch digitale Nachbarschaftsformen. Insofern ist es Anspruch des Bandes, ein „Update der deutschsprachigen Nachbarschaftsforschung“ (S. 3) vorzulegen und Empiriedefizite zu beseitigen. Dabei werden die konstatierten veränderten Rahmenbedingungen einleitend historisch in vier Phasen (von der Früh- zur Post-Postmoderne) kurz nachgezeichnet und Nachbarschaft als Handlungsebene der Praxis aus drei Blickwinkeln unterschieden: als soziales Alltagsphänomen, für die Koproduktion von Stadt ‚von unten‘ und ‚top-down‘ als Bezugspunkt und Interventionsziel von Stadtentwicklungspolitik. In Abgrenzung zum Quartiersbegriff wird schließlich eine Definition von Nachbarschaft als eine sich prozesshaft verändernde soziale Konstruktion auf der Basis eines gemeinsam geteilten Nahraums angeboten, wobei eine sehr unterschiedliche Begriffsverwendung von Nachbarschaft in verschiedenen fachlichen und internationalen Kontexten (z. B. neighbourhood) konstatiert wird. Insofern kann die eigene Begriffskonstruktion nur als Arbeitsbegriff für den vorliegenden Band und die zugrunde liegenden empirischen Forschungsstudien verstanden werden. Denn in den folgenden Kapiteln wird eine Unterscheidung zwischen Nachbarschaft und Quartier nicht immer deutlich und ist auch nach meinem Dafürhalten nicht trennscharf möglich und sinnvoll. Mit einer gewissen Begriffsuneindeutigkeit ist – wie bei vielen sozialwissenschaftlichen Begriffen – zu leben.

Der Band „Nachbarschaften in der Stadtentwicklung“ stellt in drei Kernbeiträgen die Ergebnisse von zwei, im Zeitraum von 2016 bis 2019 durch den vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung geförderten, Studien dar. Den drei Beiträgen ist eine Einleitung vorangestellt und ein gemeinsames Fazit dient der Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse, sodass der Sammelband aus insgesamt fünf Kapiteln besteht.

Ausgangspunkt einer kommentierten Literatursichtung durch Matthias Drilling in Kapitel 2 ist die Beobachtung einer häufig zu normativ-politischen und auch romantisierenden „Idealisierung“ von Nachbarschaft, die freigelegt werden müsste. Anhand von vier definierten Themenfeldern wurde dazu in der deutsch- und englischsprachigen Fachliteratur eine syntaxbasierte Datenbankrecherche mit am Ende 805 Treffern durchgeführt. In Sichtung und Auswertung dieses Literaturkorpus unterscheidet Drilling schließlich fünf unterschiedliche Idealisierungen von Nachbarschaft, die er anhand von „Ankerliteratur“ (S. 22) skizziert: Nachbarschaft als (1) Quasi-Verwandtschaft, (2) als emotionale und sozialräumliche Kontaktzone, (3) als Herstellung von Netzwerken bzw. Nachbarschaftlichkeit und Erinnerung (Archiv) daran, (4) als Räume der sozialen Mischbarkeit sowie (5) als Steuerungsgröße einer lokalen Governance. Die Dekonstruktion dieser ‚Idealisierungen‘ soll dazu dienen, Routinen in der Quartiersentwicklungspolitik und fixe Orientierungen zugunsten von Dynamik, Offenheit und Veränderbarkeit zu hinterfragen. Das Forschungsfeld wird also sozusagen offengelegt.

Hauptteil des Bandes ist in Kapitel 3 der Beitrag von Simone Tappert über die empirischen Studienergebnisse zu Alltagsräumen von urbanen Nachbarschaften. In einer primär ethnographischen Feldstudie beschreibt sie am Beispiel des Planungsraums Urbanstraße in Berlin, wie sich Nachbarschaft aus unterschiedlichen Bewohner- und Akteurperspektiven konstituiert und entwickelt. Die Forscherin lebte hierzu zur besseren Beobachtung selbst für längere Zeit im Untersuchungsraum, der einer erheblichen sozialen und räumlichen Veränderungsdynamik unterliegt und durch eine hohe Diversität in der Bevölkerungsstruktur sowie eine hohe Dichte an sozialen Trägern und Infrastrukturen geprägt ist. Die Forscherin hat Bewohnerinnen und Bewohner aus den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in ihrem vertrauten nachbarschaftlichen Umfeld beobachtet und befragt, sodass 23 Interviews aus der Bewohnerperspektive entstanden sind. In einer zweiten Phase wurden 14 (semi)professionelle Nachbarschaftsakteure (Vereine, soziale Träger, Netzwerke) befragt sowie die Perspektive von Verwaltung und Wohnungswirtschaft einbezogen. Die Interviews mit den Bewohnerinnen und Bewohnern verdeutlichen die schon hinlänglich bekannten vielfältigen und ambivalenten Wahrnehmungen von Nachbarschaft: überschaubarer Rückzugsort, Vertrautheit und Zugehörigkeit versus soziale Kontrolle und Wunsch nach Anonymität. Die zentrale Bedeutung von flüchtigen Begegnungen im Alltag als Voraussetzung von Kennenlernen, Vertrautheit und auch dem Abbau von Vorurteilen wird ebenso bestätigt, wie nachbarschaftliche Hilfe und der Austausch von Ressourcen. Dabei bekräftigt die Studie des Weiteren schon bekannte Erkenntnisse, dass die Entgrenzung von Zeit und Raum durch die zunehmende Digitalisierung und Mobilität nicht zu einem Bedeutungsverlust von nachbarschaftlichen Bezügen und Ressourcen führt. Diese sind allerdings für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedlich wichtig, insbesondere für die altersmäßig und sozioökonomisch immobileren Bevölkerungsgruppen (Kinder, Alte, Arme) sind sie von größerer Bedeutung. Digitale Nachbarschaftsplattformen – so zeigt die Studie auch – können dabei analoge Austauschformen und Netzwerke ergänzen oder auch verstärken, wobei die soziale Selektivität von digitalen Formaten ausdrücklich nicht Gegenstand der Studie war.

Die Interviews mit den (semi)professionellen Nachbarschaftsakteuren zeichnen das Initiativwerden von Menschen in und für die Nachbarschaft in unterschiedlichen Entwicklungsphasen als Ko-Produzierende von Stadt nach: vom Protestieren und Verändern nachbarschaftlicher Probleme und Realitäten, dem Zusammenwirken mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern, über die Gründung von Nachbarschaftsinitiativen bis hin zur Etablierung als Einrichtung oder Institution im Quartier bzw. Stadtteil. Die auch aus anderen Studien (z. B. zur Begegnungs- oder Gemeinwesenarbeit) bekannten Befunde über die zentrale Rolle von Begegnungsorten und -einrichtungen sowie deren offene Gestaltbarkeit und Aneignungsmöglichkeiten werden ebenso bestätigt wie die Bedeutung von Kontinuität und Verlässlichkeit für stabile Netzwerkstrukturen. Eine solche (professionelle) Nachbarschaftsarbeit bedarf daher einer verlässlichen, aber auch flexiblen finanziellen Absicherung, so das Studienfazit.

In Kapitel 4 findet durch Patrick Oehler und Nadine Käser das professionelle Handlungswissen nochmals eine gesonderte Betrachtung. In der Vorstudie zur gerade dargestellten ethnographischen Hauptstudie wurden Akteure aus unterschiedlichen Handlungsebenen (Stadt, Quartier, Verwaltung, Zivilgesellschaft, Wohnungsunternehmen) nach ihrer Wahrnehmung von Nachbarschaft unter veränderten postmodernen Rahmenbedingungen befragt. Dabei zeigten sich zwei Auffälligkeiten: Erstens konnten die Befragten relativ wenig mit dem Begriff der Postmoderne anfangen und zweitens fanden sich in der Sichtweise auf Nachbarschaften häufig die in Kapitel 2 problematisierten „Idealisierungen“ von Nachbarschaft wieder. Das lässt aus meiner Sicht abschließend zwei Schlussfolgerungen zu, die beide für wissenschaftliche wie politisch-planerische Interventionen anschlussfähig sind: Der Nachbarschaft und damit dem Quartier wird ungebrochen als Handlungsebene eine hohe Bedeutung für städtische Transformationsprozesse beigemessen. Allerdings bedarf es der besseren Wahrnehmung von veränderten Rahmenbedingungen und Dynamiken, um die Zielgenauigkeit und Reichweite von Interventionen auch realistisch abschätzen zu können.

Insofern schließe ich mich auch der abschließenden Einschätzung der Autorinnen und Autoren im Fazit über die Nachbarschaft als einen Möglichkeitsraum (neben anderen) an, in dem befördert durch die räumliche Nähe soziale Interaktion ergebnisoffen gefördert und durch die Bewohnerinnen und Bewohner selbst gestaltet werden kann. Insgesamt handelt es sich also um ein lohnenswertes Buch mit einem Update zur aktuellen Nachbarschaftsforschung, das den Blick auf den Forschungs- und Handlungsgegenstand Nachbarschaft und Quartier durch die Dekonstruktion von tatsächlichen oder vermeintlichen idealisierten Sichtweisen öffnet und dabei (durchaus schon bekannte) Erkenntnisse systematisiert und neu einordnet.

Vollständige bibliographische Angaben des rezensierten Werkes:  
Drilling, Matthias; Tappert, Simone; Schnur, Olaf; Käser, Nadine; Oehler, Patrick (2022): Nachbarschaften in der Stadtentwicklung. Idealisierungen, Alltagsräume und professionelles Handlungswissen. Wiesbaden: Springer VS. XIV, 214 Seiten. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36101-3