Just eine solche Anthologie hat gefehlt, allein schon, um einen Überblick über die Vielfalt der Raumplanung und der Raumforschung daheim sowie in anderen europäischen Ländern zu gewinnen. Auch diejenigen, die diese Vielfalt erlebt haben, werden eine solche Sammlung anspruchsvoller Ergebnisse aktueller Raumforschung sowie Reflexionen aufgrund reichhaltiger fachlicher Erfahrung als überaus fruchtbar empfinden, zumal wenn sie hinter den Besonderheiten eines von Land zu Land höchst ungleich ausgebildeten Handlungsfeldes nach dem Tertium Comparationis fragen. Wozu haben Raumplanung und Raumforschung in jenen 30 Jahren gedient? Wie wurde das Handlungsfeld entfaltet? Behandelt werden neben der alten Bundesrepublik die DDR, Frankreich, Italien, die Niederlande, Luxemburg, Österreich, Polen, die Schweiz und Spanien. Elf Beiträge stellen die Kasuistik vor, drei weitere ergänzen die Fallstudien um weitergehende Überlegungen. Der umfangreiche Band schließt mit vier Texten, die unsere Gegenwart erreichen und Perspektiven für die Zukunft erwägen – mittlerweile selbstverständlich in einer supranationalen europäischen Dimension.
Kontinuität oder Bruch nach 1945? Schon der Titel verweist auf die Vielfalt der Geschichten. „A New Beginning?“ steht erst einmal für die seit einigen Jahren nicht nur die ARL beschäftigende Frage nach der Kontinuität mit der Raumplanung der Nazi-Diktatur und deren Einfluss auf Fach und Disziplin nach 1945, was für die deutsche Fachwelt als eine Bringschuld anzusehen ist. Detlef Briesen und Wendelin Strubelt, die Herausgeber, haben 2015 schon Wertvolles dazu zusammengetragen: „Raumplanung nach 1945 – Kontinuitäten und Neuanfänge in der Bundesrepublik Deutschland“ (Strubelt/Briesen 2015). Zuvor veröffentlichte Wendelin Strubelt mit Heinrich Mäding „Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik: Beiträge einer Tagung zur Geschichte von Raumforschung und Raumplanung“ (Mäding/Strubelt 2009). Die Bedeutung dieser Frage für die ARL erklärt eine, wie es heißt, großzügige Förderung der neuen Publikation durch die Akademie.
In anderen Ländern stellt sich diese Frage in ganz anderer Weise oder gar nicht. In Spanien endete der (Bürger)Krieg 1939, die Diktatur Francos hielt sich bis 1975. Der große Umbruch der räumlichen Entwicklungspolitik kam dort erst Ende der 1950er-Jahre. Die Schweiz war nicht an kriegerischen Handlungen beteiligt. Andere Länder wie Polen, die Bundesrepublik und die DDR mussten mit einem neu zugeschnittenen Territorium zurechtkommen. In der Bundesrepublik hat die Kontinuität von prominenten NS-Akteuren und belasteten Begriffen keinen wirklichen Einfluss auf die langfristige räumliche Entwicklung gehabt. Die Volksrepublik Polen und die DDR haben eine eigene Raumplanung unter den Bedingungen des Staatssozialismus aufgebaut. In Luxemburg hatten Planungen aus der Zeit der NS-Besatzung, die damals nicht in Angriff genommen wurden, schon Einfluss auf die spätere räumliche Entwicklung – allerdings unter völlig anderen politischen wie ökonomischen Bedingungen. In den Niederlanden erhält Kontinuität wiederum eine ganz eigene Note, denn die Raumplanung begann dort unter deutscher Besatzung. Niederländische Angehörige der Verwaltung unter NS-Kontrolle haben noch vor der Befreiung klandestin Pläne für eine Ostverschiebung der Grenze entwickelt. Als Kompensation für die Kriegsverbrechen und -schäden sowie als Prophylaxe gegen erneuerte Eroberungsgelüste des großen Nachbarn sollte ein Streifen deutschen Territoriums niederländisch werden. Es kam anders. Die gemeinsame räumliche Planung an der deutsch-niederländischen Grenze ab Ende der 1950er-Jahre wurde zu einem Vorbild für regionale Kooperation über Staatsgrenzen hinweg.
Die Durchsetzung der Raumplanung als anerkanntes Instrument für die räumliche Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung verlief von 1945 bis 1975 sehr unterschiedlich – ihre Etablierung wurde in jenen drei Jahrzehnten zu einem Unterscheidungsmerkmal Europas gegenüber den anderen Kontinenten, wie die Herausgeber zurecht schreiben. In Ländern wie der Schweiz, Österreich und der Bundesrepublik hat der Kalte Krieg allerdings retardierend gewirkt: Planung wurde als kommunistisch verdammt, bevor sie als kompatibel, ja als unentbehrlich für die Entwicklung einer ausgebildeten kapitalistischen Gesellschaft anerkannt wurde. In Frankreich gehörte die gesamtstaatliche Planung – und nicht nur die räumliche – hingegen zum selbstverständlichen Instrumentarium auch konservativer Politik.
Der Band liefert anregendes Material über die – zumeist geringe – Durchsetzungskraft der Raumplanung gegenüber sektoralen Interessen. In den Niederlanden waren räumliche und ökonomische Planung integriert, um ein ausgeglichenes Wachstum zu erreichen. In der DDR und in Polen war die Territorialplanung der Industrialisierungsplanung unterlegen. In Spanien hatte das Wachstum urbaner Zentren den Vorrang, die verheerende Ausbreitung von touristischen Siedlungen wurde hie hingenommen, dort gar gefördert. Der ländliche Raum hingegen wurde ausgetrocknet. In Frankreich wiederum wurde versucht, mit dem hypertrophen Paris umzugehen, etwa durch die Umverteilung von Wachstumspolen. In Italien hat Raumplanung die negativen Effekte einer hochsubventionierten Industrialisierungspolitik vor allem im Mezzogiorno, die extensive Ausbreitung der Mittelschichten sowie der touristischen Infrastruktur nicht korrigieren, geschweige denn steuern können. In der Schweiz kam es zu einer kleinteiligeren Raumplanung, die das Siedlungswachstum vergleichsweise streng regulierte.
Die Zusammensetzung der Autorinnen und Autoren ist ein Thema für sich. Geschrieben haben 21 Menschen, nur drei davon sind Frauen. Dies ist nicht den Herausgebern anzulasten, sondern ist ein getreuer Ausdruck der bisher auf diesem Feld herrschenden Verhältnisse. Die Herausgeber haben große Namen des Faches – etwa Martin Lendi, Andreas Faludi, Klaus Kunzmann, um nur drei zu nennen – für Beiträge gewonnen, die einen bleibenden Wert haben. Nur im Falle der DDR schreibt nicht ein originärer Vertreter seines Landes; hier macht sich der harte Austausch der Funktionseliten ab 1990 bemerkbar.
Überraschend in einer Publikation zur Raumplanung sind die expliziten biographischen Bezüge einiger Texte. Sie erklären unaufdringlich die Nähe und Distanz des Autors zum Gegenstand (Wendelin Strubelt), dienen eitlem Eigenlob (Andreu Ulied) oder lassen anhand eines beruflichen Lebenslaufes den Wandel des Faches über die Jahrzehnte viel besser nachvollziehen (Andreas Faludi, Klaus Kunzmann).
Eine stärkere Beachtung der Raumforschung hätte dem Band gutgetan, ebenso mehr Aufmerksamkeit für die innere Verfasstheit des Handlungsfeldes. Allein schon die krassen Kontraste zwischen der Raumbeobachtung etwa in der Bundesrepublik und Spanien vermittelt und erklärt zugleich das unterschiedliche Gewicht der Raumplanung im fraglichen Zeitraum – bis in die Gegenwart.
Die Herausgeber haben auf ein Abschlusskapitel verzichtet. Innerhalb des begrenzten Umfangs einer Rezension sei ein Versuch gewagt: Als das Gemeinsame aller europäischen Raumplanung von 1945 bis 1975 unter kapitalistischen wie unter staatssozialistischen Bedingungen erweist sich der Versuch, die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum zu optimieren und sehr verschiedene Modelle eines Sozialstaates durch Maßnahmen eines räumlichen Ausgleichs umzusetzen. In Ost und West war die Raumplanung primär ein Instrument für Wirtschaftswachstum. Die Zäsur 1975 ist mit dieser Zielsetzung wesentlich verbunden: Wachstumspolitik verlangte angesichts der abnehmenden ökonomischen und natürlichen Ressourcen sowie wegen der rapide abnehmenden politischen Legitimation eine Überholung des industrialistischen Entwicklungsmodells. Die (west)europäische Integration mit ihren raumpolitischen Elementen lässt sich auch als eine Reaktion auf diese Zäsur erklären. Mehr darüber dürften wir vom nächsten Band von Detlef Briesen und Wendelin Strubelt erfahren, der die anschließenden 50 Jahre behandeln soll. Auf denn!