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https://doi.org/10.14512/rur.1731
Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning (2023) 81/4: 413–415
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Rezension / Book review

Breckner, Ingrid; Sinning, Heidi (Hrsg.) (2022): Wohnen nach der Flucht. Integration von Geflüchteten und Roma in städtische Wohnungsmärkte und Quartiere

René Kreichauf Contact Info

(1) Department of Geography, Vrije Universiteit Brussel, Pleinlaan 2, 1050 Brussels, Belgien

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Eingegangen: 27. April 2023  Angenommen: 15. Mai 2023  Online veröffentlicht: 10. Juli 2023


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Mit dem Sammelband „Wohnen nach der Flucht“ greifen die Herausgeberinnen Ingrid Breckner und Heidi Sinning praxisnahe und bisher wenig untersuchte Fragen der (deutschen) Flucht- und Migrations-, aber auch der Stadtforschung auf: Wie und unter welchen Bedingungen und Herausforderungen bestreiten Zugewanderte den Zugang zum städtischen Wohnungsmarkt? Welche kommunalen Handlungsmöglichkeiten, Akteure, Strategien und Netzwerke gibt es und sind notwendig, damit deren Zugang erleichtert wird? Der Band ergänzt damit die bisher überschaubare (aber wachsende) Zahl neuerer Arbeiten zur Wohnungsmarktintegration Geflüchteter und marginalisierter Zuwanderungsgruppen (z. B. Becker/Kronenberg/Pompe 2017; von Einem 2017; Jepkens/Scholten/van Rießen 2020). Er zeichnet sich besonders durch die vielfältigen empirischen Untersuchungen, die Auseinandersetzung mit konkreten Praxisbeispielen sowie tiefgehende Analysen von Akteurstrukturen und lokalen Integrationspraktiken aus.

Im Fokus des vorliegenden Sammelbandes steht die Vorstellung der Ergebnisse des von den Herausgeberinnen durchgeführten Forschungsprojektes „StraInWo – Strategien zur Integration besonders benachteiligter Gruppen in den Wohnungsmarkt im Zuge eines nachhaltigen Transformationsprozesses von Stadtquartieren“. Die Mehrheit der Beiträge steht im Zusammenhang mit oder betrachtet explizit die beiden in dem Projekt untersuchten Fallbeispiele: das Modellprojekt „Bunte 111“ in Berlin, das auf die Inklusion neuzugewanderter Romnja zielt, und das Projekt „Probewohnen“ in Lübeck, das Wohnungen für Geflüchtete mit sogenannter Bleibeperspektive anbietet. Die Darstellung dieser Studien wird durch weitere themennahe Beiträge, z.B. über Ressentiments gegenüber Geflüchteten (Reinhard Olschanski) und Romnja (Anna Kokalanova) sowie zu den (allgemeinen) Rahmenbedingen kommunaler Integrationsstrategien (Roland Roth; Mona Wallraff, Nils Hans, Ralf Zimmer-Hegmann) inhaltlich ergänzt. Dadurch bietet das Buch eine spannende Sammlung aktueller Arbeiten und Debatten zu Fragen der lokalen Steuerung von Wohn- und Integrationsprozessen.

Hervorzuheben sind die sehr detailreichen und empirisch fundierten Beiträge des Bandes. Insbesondere in den Kapiteln von Jenny Kunhardt und Heidi Sinning, Anna Kokalanova sowie Helene Böhm wird deutlich, dass neben engagierten zivilgesellschaftlichen Akteuren, progressiven Stadtverwaltungen und dem Aufbau nachhaltiger Projekt- und Netzwerkstrukturen vor allem der kommunalen Wohnungswirtschaft und dem sozialen Wohnungsbau eine zentrale Bedeutung zukommt. Ohne deren Einbindung in lokale Integrationsarbeit und einem breiten Angebot an kommunalen Wohnungen gelingt der Aufstieg aus prekären Wohnverhältnissen nicht. In dem Beitrag von Ingrid Breckner und Constanze Engelbrecht werden zudem die vielschichtigen Problemlagen von Geflüchteten, die nicht nur von kontextuellen (Aufenthaltsstatus, Arbeits- und Bildungsmarktzugang, Diskriminierung etc.), sondern auch individuellen Einflussfaktoren (Ressourcen, Wohn- und Lebensbiographien, kulturelle Hintergründe etc.) bestimmt werden, erkennbar. Das Kapitel stellt ferner die „lebensweltlichen Perspektiven“ von Geflüchteten und deren spezifische Herausforderungen, Wahrnehmungen und (Wohn- und Nachbarschafts‑)Praktiken in den Vordergrund. Da in gesellschaftlichen und politischen Debatten — und leider auch in der Mehrheit der vorliegenden Beiträge — Fragen von Integration und Wohnversorgung weitestgehend ohne die entsprechenden Gruppen ausgehandelt werden, ist dieser Beitrag besonders relevant, um Geflüchtete und andere marginalisierte Gruppen als wesentliche Akteure, auch in sogenannten Governancestrukturen, anzuerkennen.

Besonders interessant an dem Sammelband ist, dass die empirischen Arbeiten andeuten, dass sich Formen sozialer und staatlicher Kontrolle (z. B. Bewertung der ‚Wohnfähigkeit‘ marginalisierter Gruppen; Kategorisierung marginalisierter Gruppen), Fremdbestimmung (keine Wahl der Wohnungen, eingeschränkte Mobilität) und Unsicherheit (z. B. über den Verbleib in einer Wohnung/in einem Wohnprojekt; Bleibeperspektive und Aufenthaltsstatus) über die Unterbringung in prekären Wohnsituationen hinaus fortzusetzen scheinen. Der Zugang zum regulären Wohnungsmarkt bleibt manchen Gruppen offensichtlich langfristig versperrt. Diese Prozesse und Verläufe sowie die Grenzen von Wohnintegrationsprojekten und lokaler Integrationsarbeit hätten im Kontext einer Analyse des „Wohnens nach der Flucht“ durchaus noch gründlicher beleuchtet werden können.

Insgesamt würde der Sammelband von einer kritischen Betrachtung des Wohnungsmarktes und dessen finanzialisierter Umstrukturierung der letzten zwei Jahrzehnte sowie von einer intensiven Auseinandersetzung mit den ökonomischen Logiken der Unterbringung und Wohnversorgung marginalisierter Gruppen profitieren. Die wesentlichen Ursachen für marginalisiertes Wohnen und sozialräumlicher Ausgrenzung sind eng mit der Ökonomisierung des Wohnungsmarktes (sowie entsprechenden Austeritätspolitiken, Privatisierungsprozessen und der teils politisch verordneten Profitorientierung kommunaler Wohnungsunternehmen) und Rassifizierungsprozessen verknüpft. Insofern wäre eine Analyse eben genau dieser wohnungswirtschaftlichen und -politischen „Transformations“-prozesse doch grundlegend, um strukturellen und individuellen Einflussfaktoren und Problemlagen genauer nachspüren zu können. Auch die in vielen Beiträgen (zwar sehr aufschlussreich und ausführlich) untersuchte Verflechtung von Akteuren, Praktiken und Infrastrukturen, die auf die Bereitstellung eines immer vielfältigeren Spektrums von migrationsbezogenen Dienstleistungen und Angeboten ausgerichtet sind, hätte durch politisch-ökonomische Ansätze erweitert werden können. Die Mehrheit der Beiträge setzt sich allerdings mit (eben auch eher neoliberalen) Governance-Ansätzen und Programmstrukturen (vgl. die Beiträge von Mona Wallraff, Nils Hans, Ralf Zimmer-Hegmann sowie von Thomas Franke, Olaf Schnur) auseinander, ohne diese immer kritisch bezüglich Logiken, Absichten und Wirkmächte zu hinterfragen. Hier hätte deutlicher herausgearbeitet werden können, dass die beteiligten Akteure nicht immer an einem Strang ziehen und wesentlich von eigenen Interessen und Motiven, die teils eng mit marktwirtschaftlichen und ordnungspolitischen Herrschaftsstrukturen verbunden sind, geleitet werden. Für diese Kontextualisierung wäre eine Verbindung zu jüngeren Arbeiten zu ‚Migration Industries‘ und ‚Racial Capitalism‘ fruchtbar gewesen (vgl. z. B. Fields/Raymond 2021; Bernt/Hamann/El-Kayed et al. 2022).

Gerade weil Migration, Migrationserfahrungen, aber auch die Governance von Migration in globale Prozesse eingebunden sind und die lokalen Aushandlungen in Stadt und Quartier wesentlich von Grenzregimen, Rassifizierungsprozessen und der Kapitalisierung von Migration (und Migrantinnen/Migranten) geprägt werden, hätten die vorliegenden Befunde durch eine Einbettung in internationale Debatten und Forschungen sowie durch einen schärferen theoretischen Unterbau gestärkt werden können. Denn die Verortung vorgestellter Prozesse und Ergebnisse bleibt hinsichtlich der Auswahl von Literatur, Theorien und Herangehensweisen sehr ‚deutsch‘. Zudem gelingt es dem eher vage formulierten Transformationsbegriff, der zu Beginn des Bandes vorgestellt wird und die Beiträge bündeln soll, nicht durchgängig, die Vielfalt der anregenden Studien und Debatten konzeptionell zusammenzuführen. Ein roter Faden ist so nicht immer erkennbar, auch weil eine klare Kapitelstruktur fehlt, die Beiträge stellenweise ungeordnet sind und nicht einem logischen thematischen Aufbau folgen, sich teils erheblich in ihrer Ausrichtung (einige empirisch, andere sehr programmatisch) und Umfang unterscheiden und doch an vielen Stellen inhaltlich redundant sind. Auch eine zusammenfassende Diskussion, die die unterschiedlichen Beiträge und deren Widersprüche vereint und über bloße pauschale, von den empirischen Befunden losgelösten und teils in Stichworten formulierten Handlungsempfehlungen hinausgeht, ist nicht vorhanden.

Für die Auseinandersetzung mit Fragen der Wohnintegration Zugewanderter ist „Wohnen nach der Flucht“ dennoch ein interessantes Werk. Da sich die Fluchtforschung in Deutschland in den letzten Jahren intensiv mit der Unterbringung von Geflüchteten in staatlich organisierten Massenunterkünften auseinandergesetzt hat, leistet dieser Band einen wichtigen Beitrag für die Debatte um das ‚danach‘ und zeigt, wie die Herausforderungen des Übergangs in den regulären Wohnungsmarkt angegangen werden können. Im Hinblick auf die Verschärfung der Wohnungskrise und der Zuwanderung ukrainischer Geflüchteter seit dem Frühjahr 2022 ist das Buch somit auch eine gute Grundlage für weitere Forschungen. Vor allem die Wohnversorgung, -biographien, -bedingungen und -orte marginalisierter Neuzugewanderter, die nach der Unterbringung in Lagern nicht von einzelnen Leuchtturmprojekten aufgefangen werden, kann dabei im Mittelpunkt stehen. Denn wie sich das Wohnen der Mehrheit der seit den letzten zehn Jahren zugewanderten Menschen gestaltet, ist weiterhin größtenteils unbekannt.

Vollständige bibliographische Angaben des rezensierten Werkes:  
Breckner, Ingrid; Sinning, Heidi (Hrsg.) (2022): Wohnen nach der Flucht. Integration von Geflüchteten und Roma in städtische Wohnungsmärkte und Quartiere. Wiesbaden: Springer VS. 421 Seiten. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26079-8


Literatur

Becker, M.; Kronenberg, V.; Pompe, H. (Hrsg.) (2017): Fluchtpunkt Integration: Panorama eines Problemfeldes. Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-19430-7
 
Bernt, M.; Hamann, U.; El-Kayed, N.; Keskinkilic, L. (2022): Internal migration industries: Shaping the housing options for refugees at the local level. In: Urban Studies 59, 11, 2217–2233. https://doi.org/10.1177/00420980211041242
 
Fields, D.; Raymond, E. L. (2021): Racialized geographies of housing financialization. In: Progress in Human Geography 45, 6, 1625–1645. https://doi.org/10.1177/03091325211009299
 
Jepkens, K.; Scholten, L.; van Rießen, A. (Hrsg.) (2020): Integration im Sozialraum: theoretische Konzepte und empirische Bewertungen. Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28202-8
 
von Einem, E. (2017): Wohnungen für Flüchtlinge. Aktuelle sozial- und integrationspolitische Herausforderungen in Deutschland. Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17860-4