Ländliche Räume sind seit geraumer Zeit wieder ‚in‘: Die bunte Palette der „Land“-Zeitschriften in unseren Bahnhofskiosken zeugt davon ebenso wie diverse „Land“-Romane unterschiedlichster Provenienz, die in jüngster Zeit zu Bestsellern reüssieren konnten. Und auch im aktuellen raumwissenschaftlichen Diskurs spiegelt sich ein ungebrochenes Interesse an Ländlichkeit, das in den letzten drei Jahren das Erscheinen von gleich mehreren Buchveröffentlichungen, Monographien, Sammelbänden und Neuauflagen älterer Publikationen, aber auch Themenheften einschlägiger Zeitschriften, gezeitigt hat. Langsam, schön langsam, möchte man meinen, müsste nun eigentlich alles, was zu sagen ist, gesagt worden sein. Neues, so denkt man, ist nicht mehr zu erwarten.
Weit gefehlt: Vier Geographen, Bernd Belina (Frankfurt am Main), Andreas Kallert (Eichstätt), Michael Mießner (Trier) und Matthias Naumann (Cottbus), haben sich angeschickt, eine Sammlung von Aufsätzen zusammenzutragen, die sich erklärtermaßen einer „Kritischen Landforschung“ verschrieben haben. Es ist dies der zweite Band der gleichnamigen neuen Reihe, die seit 2020 im Bielefelder Verlag transcript herausgegeben wird. Wenn das Buch nicht schon durch seinen weinroten Einband auffällt, so gewiss durch die originäre Zusammenstellung seiner Autorinnen und Autoren sowie Titel, die in der Tat andere Blicke auf die Entwicklung ländlicher Räume werfen, als man sie vielleicht aus der Beschäftigung mit dem Themenfeld sonst gewohnt ist. Dabei erscheint der Ausgangspunkt, den die Herausgeber für sich bestimmen, zunächst alles andere als ‚fremd‘: Ländliche Räume sind durch eine Reihe großer Unterschiede geprägt, die es verbietem, von ihnen im Singular zu sprechen. Seit jeher gilt die Ungleichentwicklung ländlicher Räume als ein klassisches Thema der geographisch-raumwissenschaftlichen Forschung. Auffällig sei aber, so die Herausgeber, dass Vielfalt und Unterschiede in der Regel nur beschrieben würden, es aber kaum darum gehe, Erklärungen für die ungleiche Entwicklung aufzuzeigen, was deren Ursachen seien, welche Folgen die disparitäre Raumentwicklung mit sich bringe und wie den (unerwünschten) Unterschieden begegnet werden könne. Dieser konstatierten Leerstelle gilt das Interesse der Herausgeber – ebenso wie einem konzeptionellen Zugang zum Themenfeld, der sich Ansätzen des „Uneven Development“ verschreibt, wie sie in der anglo-amerikanischen „Radical Geography“ seit den 1980er-Jahren entwickelt wurden. Die dezidiert kapitalismuskritische Perspektive, die sich mit diesen Zugängen verbindet, ist in der Tat in Deutschland wenig verbreitet. Schon im ersten Band der „Kritischen Landforschung“ in 2020 (Maschke/Mießner/Naumann 2020), ebenso wie in einem noch früheren Sammelband von Mießner und Naumann (2019), ist indes eine solche Perspektive auf die ländliche Raumforschung in Deutschland bereits skizziert worden, die nun offenbar ihre Fortsetzung findet.
Der vorliegende Band versammelt 25 Beiträge teils namhafter, teil bisher noch weniger bekannter Autorinnen und Autoren, die Herausgeber eingeschlossen, die zum größten Teil an Einrichtungen in Deutschland tätig sind, teilweise auch im Ausland. Die Beiträge teilen eine eurozentrische Perspektive; die Mehrzahl der aufgegriffenen Themen sind geographisch in Deutschland verortet. Alle Aufsätze sind durchweg anregend geschrieben und gut lesbar, allerdings so gut wie gar nicht illustriert. Bisweilen ist ein gewisses Maß an theoretisch-konzeptionellem oder inhaltlichem Vorverständnis hilfreich, wenn es nicht sogar vorausgesetzt wird. In ihrer Einleitung liefern die Herausgeber dazu einige nützliche Hinweise. Die folgenden Beiträge wurden in vier thematischen Blöcken zusammengestellt, die dem Band eine konsistente Struktur geben. Zunächst werden verschiedene konzeptionelle Zugänge zur ländlichen Entwicklung diskutiert. Die Beiträge reichen dabei von der Reflexion marxistischer Perspektiven auf Land und ländliche Räume über die Konstruktion von Ländlichkeit durch Wissenschaft und Planung und die Diskussion ausgewählter Aspekte der ruralen Geschlechterforschung bis zum Diskurs über das „Gute Leben auf dem Land“. Der zweite Block verbindet Fragen der ländlichen Entwicklung mit Aspekten der Stadtentwicklung ebenso wie mit Fragen der sozialökologischen Transformation. Verschiedene Beispiele, die bemüht werden, führen in die Uckermark, in das Mitteldeutsche Braunkohlenrevier und sogar in Biosphärenreservate in Österreich und der Schweiz. Dem sozioökonomischen Wandel ländlicher Räume ist der dritte Block gewidmet. Das Spektrum der hier angesprochenen Fragen reicht von ruralen Armutsräumen über die Implikationen der Digitalisierung für die Landwirtschaft bis hin zur Rolle von Genossenschaften und eHealth-Diensten für die Sicherstellung der Daseinsvorsorge im ländlichen Nordschweden. Der vierte und letzte Block ist schließlich aktuellen Fragen zur Migration und der Mobilisierung populistischer Bewegungen in ländlichen Räumen gewidmet. Die Beiträge umfassen den Umgang mit Zuwanderung in ländlichen Räumen ebenso wie die Thematisierung der Dorfgemeinschaft als soziales Konstrukt und die Bedeutung von Erinnerungsorten in ländlichen Räumen am Beispiel der Kärntner Slowenen.
Bei aller Verschiedenartigkeit der Einzelthemen lässt sich gleichwohl der gemeinsame Nenner des Bandes kaum übersehen. Die Ungleichentwicklung ländlicher Räume ist danach immer auch als Ergebnis globaler Prozesse – sozioökonomischer Strukturwandel, Klimawandel, demographischer Wandel, um nur einige zu nennen – zu verstehen, deren Problemstellungen und Herausforderungen in besonderer Weise auf lokal-regionaler Ebene zum Ausdruck kommen. Zugleich ist es diese Ebene, auf der Widersprüche erkennbar werden, Konflikte ausbrechen, Widerstand organisiert wird, staatliche Steuerungsansprüche geltend gemacht, Utopien formuliert und zivilgesellschaftliche Partizipation eingeübt werden.
Die Herausgeber haben für ihren Sammelband keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, gleichwohl bietet dieser einen gelungenen und willkommenen Überblick zu dem, was die Forschung zu einer Kritischen Geographie ländlicher Räume hierzulande aktuell bewegt. Bernd Belina, Andreas Kallert, Michael Mießner und Matthias Naumann gebührt Anerkennung dafür, dieses Kompendium zusammengestellt und herausgegeben zu haben! Ganz im Sinne der Reihe, die der Verlag transcript ins Leben gerufen hat, ist dieses jedoch nur als eine Momentaufnahme zu verstehen. Die Herausgeber selbst haben „Lücken und blinde Flecken ihres Bandes“ konstatiert, die als Einladung zu weiteren Beiträgen zu verstehen sind. Interessant zu wissen wäre, was eine Kritische Landforschung beispielsweise zur Biodiversitätskrise und zur Energiewende zu sagen hat, ebenso wie zu Prozessen der ländlichen Ungleichentwicklung in anderen Teilen des globalen Nordens ebenso wie in den Ländern des Globalen Südens. Auch wenn ihre Entwicklung hierzulande noch am Anfang steht, dürfen von einer Kritischen Landforschung im Lichte der ablaufenden Transformationsprozesse und der damit einhergehenden Herausforderungen in den kommenden Jahren sicherlich weitere gehaltvolle Beiträge erwartet werden.