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https://doi.org/10.14512/rur.2224
Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning (2024) 82/1: 89–91
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Rezension / Book review

Rühmling, Melanie (2023): Bleiben in ländlichen Räumen. Wohnbiographien und Bleibenslebeweisen von Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern

Susanne Lerche Contact Info

(1) Institut für Transformation, Wohnen und soziale Raumentwicklung, Hchschule Zittau/Görlitz, Parkstraße 2, 02826 Görlitz, Deutschland

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E-Mail: susanne.lerche@hszg.de

Eingegangen: 3. August 2023  Angenommen: 8. August 2023  Online veröffentlicht: 4. Oktober 2023


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Innerhalb der Forschung zu ländlichen Räumen gewinnen in den letzten Jahren vor allem jene Perspektiven an Bedeutung, die jenseits einer vermeintlichen Dichotomie ruraler und urbaner Räume ein differenziertes Bild zu Ländlichkeit und ländlichen Lebensweisen aufzeigen. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang die kritische Landforschung oder, weiter gefasst, die Forschung zu Ungleichheiten ländlicher Entwicklung erwähnt. Die vorliegende Monographie, entstanden im Rahmen einer Dissertation, fügt diesen Bestrebungen einen beachtenswerten Beitrag hinzu. Melanie Rühmling widmet sich dem Verbleib in ländlichen Räumen und stellt dabei eine Gruppe in den Mittelpunkt ihres Interesses, deren Fehlen und Abwanderung für gewöhnlich als ein zentrales Problem ruraler Regionen thematisiert wird: Frauen. Deren Bleibenslebeweisen werden anhand von Wohnbiographien in Mecklenburg-Vorpommerns eruiert.

Im einleitenden Problemaufriss skizziert die Autorin Diskurse über Stadt-Land-Relationen und begründet anhand von Daten aus der Demographie- und Migrationsforschung sowie wahrgenommenen Leerstellen und Verkürzungen ihr Forschungsanliegen prägnant und schlüssig.

Die Einbettung in theoretische Diskussionen ist überraschend breit aufgestellt und umfasst neben Alltags‑, Biographie- und Lebenslaufkonzepten auch Ansätze der Mobilitätsforschung sowie Theorien der Entscheidungsfindung. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in raumsoziologischen Betrachtungen. Hier kommen Martina Löws relationales Raumverständnis und das Konzept der Grenzen (Günter Weidenhaus) prominent zur Geltung. Das aufgemachte Spektrum zu erfassen, benötigt aufgrund der Heterogenität der hinzugezogenen theoretischen Ansätze ein wenig Aufmerksamkeit. Im Laufe der Lektüre erschließt sich jedoch deren Nutzen. Ausgehend von einer vermeintlich gut abgrenzbaren Fragestellung entfaltet sich zunehmend die Komplexität des untersuchten Phänomens und jedes der benannten Konzepte erklärt wichtige Teilaspekte. Was zunächst verwundert, ist die fehlende Bezugnahme auf Geschlechtertheorien. Die Fokussierung auf weibliche Biographien folgte, wie Rühmling später begründet, eher empirischen Motiven als einem dezidiert feministischen bzw. geschlechterorientierten Forschungsansatz.

Der Forschungsstand, den die Autorin präsentiert, umfasst neben internationalen Arbeiten aus der Migrationsforschung, die teilweise bereits aus den 1980er-Jahren stammen und grundsätzliche Erklärungsmodelle anbieten, auch neuere Analysen aus Deutschland, die jedoch jeweils nur klar umrissene Teilaspekte beleuchten und sich zudem meist auf einer beschreibenden bzw. transferorientierten Ebene bewegen. Deutlich wird dabei, dass eine Untersuchung des Bleibens im Sinne eines eigenständigen, aktiven und vielgestaltigen Prozesses ebenso eine Forschungslücke darstellt, wie es an einer theoretischen Fundierung dazu fehlt.

In der sich anschließenden methodologischen Verortung lässt sich das Vorgehen bei Fallauswahl und Datenerhebung gut nachvollziehen. Rühmling erläutert, warum insbesondere gebliebene Frauen im mittleren Erwachsenenalter für ihre Untersuchungsregion einen ‚Interessantheits-Status‘ besitzen und begründet dies mit verschiedenen empirischen Phänomenen sowie in Abgrenzung zu medial-öffentlichen – und verkürzenden – Debatten über Deprivation, Populismus und demographische Schieflagen in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands, in denen jene Frauen oft als eine Art Residualkategorie verhandelt und gleichsam automatisch mit Abwanderung in Verbindung gebracht werden.

Nicht selten verlieren Methodenkapitel nachfolgend – also beim Explizieren des konkreten analytischen Umgangs mit qualitativen Daten – an Präzision. Dem ist hier nicht so. Anschaulich und übersichtlich lässt die Autorin ihre Leserinnen und Leser daran teilhaben, wie sie in einem mehrstufigen Kodierprozess mit anschließender Typisierung verdichtete und empirisch gesicherte Erkenntnisse gewinnt. Die Darstellung des analytischen Anspruchs und des Verfahrens im Sinne der Grounded Theory gewinnt dabei sehr durch die Nutzung von Beispielen und eigenen Abbildungen, etwa zum Kodierparadigma.

Diese Klarheit setzt sich in der anschließenden Ausführung zu den Untersuchungsergebnissen fort. In einem Dreischritt entwickelt die Autorin eine Typologie des Bleibens und eine Raumtypologie; schließlich integriert sie die Bleibetypen in ein mehrdimensionales Entscheidungsmodell des Bleibens. Die drei Typen der Verbleibstypologie (selbstverständliche sowie kritisch-positive und kritisch-negative Bleiberin) bilden dabei zunächst eine Vergleichsdimension, die eine Verortung konkreter Fälle innerhalb eines Kontinuums des Bleibens in ländlichen Räumen ermöglicht. Rühmling nimmt dabei vor allem relationale und reflexive Aspekte in den Fokus. Unter den Stichworten „aktuelle Situation“, „Bildungs‑, Erwerbs- und Wohnbiografie“ sowie „soziale und räumliche Einbindung“ veranschaulicht die Autorin die Differenzlinien ihrer Typologie. Mit Bezug zum Methodenkapitel werden die jeweiligen Kernkonzepte/-kategorien dabei exemplarisch am Material veranschaulicht.

Da die gefundenen Verbleibstypen nicht mit den jeweiligen Raumkonstruktionen innerhalb der Fälle konvergieren, erweiterte die Autorin ihre Darstellung um eine Typisierung von Raumbezügen der Befragten. In dieser Raumtypologie stellt Rühmling weniger auf Ländlichkeit an sich ab, denn auf die für die Akteurinnen relevanten Räume und deren Konstruktion und Konstitution. Hierbei zeigt sie sehr eindrücklich, dass Mobilität nicht das Gegenteil, sondern vielmehr immanenter Bestandteil von Bleibelebensweisen ist.

Im letzten Schritt integriert Rühmling die drei Bleibetypen und die Phasen von Mobilitätsentscheidungen zu einem mehrstufigen Modell. In welcher Weise unterschiedliche Auslöser, Alternativen und Motivlagen an unterschiedlichen Stellen des Prozesses zum Bleiben führen, wird für die vorgefundenen Bleibetypen sehr gut beschrieben und zudem in einem schematischen Modell zusammengefasst. Hier taucht zusätzlich ein theoretisch konstruierter, aber empirisch nicht vorgefundener Typus auf.

Die Autorin löst mit ihrer Arbeit ein, was sie zu Beginn verspricht. Die hier angebotene Konzeptualisierung des Bleibens in ländlichen Räumen leistet dabei dreierlei:
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Mit ihrer Analyse legt Rühmling eine Ausarbeitung und Beschreibung eines in der Forschung und im öffentlichen Diskurs weitgehend missachteten bzw. im doppelten Sinne stigmatisierten Phänomens vor. Das Bleiben in ländlichen Räumen wird bislang, wenn überhaupt, vor allem vor der Folie der vermeintlichen Antagonismen – dem Gehen und dem Leben in urbanen Räumen verhandelt. Unterstellt wird dabei implizit das Fehlen von Alternativen sowie ein Mangel an progressivem Potenzial, was die Bleibenden nicht selten in einen Rechtfertigungsdruck bringt. Rühmling zeigt anhand der individuellen Raumbezüge auf, dass das Verhältnis zwischen urbanen und ruralen Räumen kein dichotomes, sondern ein relationales ist und viele Ausprägungen kennt. Ebenso wenig kann das Bleiben einfach als passiver Gegenentwurf zum vermeintlich aktiven und zielorientierten Gehen gedeutet werden.
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Anders als andere Arbeiten konzentriert sich die Untersuchung nicht auf eine Erklärungsdimension (etwa die Gründe) des Verbleibs. Deshalb gelingt es, das Bleiben in ländlichen Räumen als komplexes und fluides Phänomen darzustellen. Vielgestaltigkeit und vor allem Prozesshaftigkeit sind es, die das Bleiben kennzeichnen. Dabei greift die Autorin nicht auf ex ante getroffene Hypothesen zurück, sondern nähert sich dieser weitgehend unterthematisierten Materie auf der Ebene der im Material vorgefundenen Relevanzsetzungen durch die Befragten.
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Schließlich bündelt Rühmling die Komplexität ihrer Erkenntnisse unter Hinzuziehung verschiedener theoretischer Konzepte in einem mehrdimensionalen Erklärungsmodell von Bleibenslebeweisen.

Mein Resümee ist, dass die Autorin mit der Aufschlüsselung des Verbleibsphänomens eine gleichermaßen plausible wie bedeutsame Differenzierung vornimmt, welche einerseits die latent (ab)wertenden kategorialen Verortungen ländlicher Lebensweisen infrage stellt und andererseits eine theoretische Fundierung anbietet, die für weitere Forschungen anschlussfähig ist. Eine große Stärke des Buchs liegt in der konzisen Darstellung. Stringenz und Anschaulichkeit lassen die Herleitungen und Argumentationslinien über alle Kapitel hinweg gut verfolgen.

Vollständige bibliographische Angaben des rezensierten Werkes:  
Rühmling, M. (2023): Bleiben in ländlichen Räumen. Wohnbiographien und Bleibenslebeweisen von Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.1515/9783839465356