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https://doi.org/10.14512/rur.2226
Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning (2024) 82/1: 1–4
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Kommentar/Commentary

Viele Wahrheiten in der Planung? Anmerkungen zu Ideen der Postmoderne in der Planungstheorie

Gerd Lintz Contact Info ORCID

(1) Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, Weberplatz 1, 01217 Dresden, Deutschland

Contact InfoDr. Gerd Lintz 
E-Mail: g.lintz@ioer.de

Eingegangen: 9. August 2023  Angenommen: 26. Oktober 2023  Online veröffentlicht: 11. Dezember 2023

Zusammenfassung  
In einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz zur Planungstheorie stellen Benjamin Davy, Meike Levin-Keitel und Franziska Sielker eine „brutal plurality of truths“ fest, die die räumliche Planung erschwere. Sie fragen insbesondere, wie Planerinnen und Planer damit umgehen können. Der vorliegende Kommentar nimmt vor dem Hintergrund der Klima- und Biodiversitätskrise diesen Aufsatz zum Anlass, die von der Postmoderne postulierte Vielfalt von Wahrheiten und den entsprechend gedehnten Wissensbegriff kritisch zu betrachten. Hingewiesen wird dabei vor allem auf die große Bedeutung des Strebens nach der Wahrheit (im Singular) für die Gesellschaft. Hervorgehoben wird zudem die Gefahr des Erschwerens inter- und transdisziplinärer Forschung, der Abwertung der Wissenschaft sowie der zunehmenden Distanz der Wissenschaft zur Mitte der Gesellschaft. Der Kommentar plädiert für eine schnellere, stärkere Fokussierung auf die ganz großen Herausforderungen unserer Zeit, wofür eine pragmatische Orientierung an der Wahrheit und am gesellschaftlich Verbindenden unabdingbar erscheint.

Schlüsselwörter  Postmoderne – Konstruktivismus – Planung – Wahrheit – Wissenschaft


Multiple truths in planning? A comment regarding postmodern ideas in planning theory
Abstract  
In a recently published essay on planning theory, Benjamin Davy, Meike Levin-Keitel and Franziska Sielker observe a “brutal plurality of truths” that complicates spatial planning. In particular, they ask how planners can deal with this. Against the backdrop of the climate and biodiversity crisis, the commentary takes this essay as an opportunity to take a critical look at the multiplicity of truths postulated by postmodernism and the correspondingly stretched concept of knowledge. Above all, it points out the great importance of the pursuit of truth (in the singular) for society. Moreover, it emphasises the danger of making inter- and transdisciplinary research more difficult, of depreciating science and of increasing the distance between science and the centre of society. The commentary pleads for a faster, stronger focus on the very big challenges of our time, for which a pragmatic orientation towards truth and what unites society is indispensable.

Keywords  Postmodernism – Constructivism – Planning – Thruth – Science


Im aktuellen Zweiteiler der Kinoserie Mission Impossible kämpft Ethan Hunt gegen eine außer Kontrolle geratene künstliche Intelligenz, die die gesamte digitale Welt beherrscht und alle digitalen Daten in Echtzeit manipulieren kann. Für den Protagonisten wird es der bisher größte und härteste Kampf gegen das Böse: Denn durch die „Entität“ geht die Wahrheit verloren, „so wie wir sie kennen“. Die Wahrheit scheint also ein gesellschaftlich sehr hoch geschätztes und bedeutendes Gut zu sein. Auch schon eines der zehn Gebote fordert, kein falsches Zeugnis über andere abzulegen. Nach dem Krieg sollten die Deutschen die Wahrheit über den Holocaust erfahren, und in Südafrika wurde nach dem Ende der Apartheit eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt, um eine friedliche Zukunft zu ermöglichen. Unser Rechtssystem geht davon aus, dass es möglich ist, strafrechtliches Verhalten exakt nachweisen zu können. Schließlich sei an den Begriff der „alternativen Fakten“ erinnert, mit dem eine Beraterin von Donald Trump eine nachweislich falsche Aussage zu verteidigen versuchte. Viele waren schockiert, denn Fakten werden allgemein so verstanden, dass es dazu keine anderen Versionen gibt.

Ungeachtet dieser großen gesellschaftlichen Bedeutung der Wahrheit gehen Vertreterinnen und Vertreter der Postmoderne (z. B. Jean-François Lyotard, Jaques Derrida, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Chantal Mouffe) von vornherein davon aus, dass es gar keine Wahrheit an sich (mehr) gibt – jeder hätte letztlich seine eigene, subjektive Wahrheit. Es ist die Pluralität, die im Zentrum der Postmoderne steht (Schwaabe 2018), zusammen mit einer radikalen Gesellschafts- und Kulturkritik. Verbunden ist die Idee der Postmoderne insbesondere mit den Begriffen Sozialkonstruktivismus, Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus.

Es ist nicht so, als wäre dieses Paradigma bislang kaum diskutiert worden. Da es sich aber immer stärker etabliert hat und sich die Dinge in Deutschland und weit darüber hinaus nachhaltigkeits- und gesellschaftspolitisch zuspitzen, ist auch aus raumwissenschaftlicher Perspektive ein erneuter Blick angeraten. Festmachen kann man dies an einem jüngst von drei führenden Planungstheoretikerinnen und -theoretikern publizierten Beitrag, der ganz im Sinne der Postmoderne argumentiert. Der Titel lautet „Plural planning theories: cherishing the diversity of planning“. Als Leiterinnen und Leiter der AESOP Thematic Group „Planning Theories“ diagnostizieren Benjamin Davy, Meike Levin-Keitel und Franziska Sielker (2023) eine „brutal plurality of truths“ in der Planung. Sie verdeutlichen dies anhand zweier beispielhafter individueller Wahrnehmungen der krisenhaften Entwicklungen der letzten 15 Jahre und gehen davon aus, dass diese Vielfalt an Wahrheiten den Planerinnen und Planern jede sichere Orientierung im Hinblick auf Wissen und Werte nimmt. Es gäbe weder „the truth“ noch eine „reality as such“. In ihrem Artikel werfen sie die Frage auf, wie die Planerinnen und Planer mit den (neuen) „plural rationalities“ und den polarisierten und teils mit Hass vorgetragenen Positionen umgehen können.

Hätten die Autorinnen und der Autor von einer Pluralität von Deutungen, Interpretationen, Meinungen, Bewertungen, Moralvorstellungen, Einschätzungen, Perspektiven, Sichtweisen oder Paradigmen gesprochen, wäre es nicht zu dem vorliegenden Kommentar gekommen. Es ist die Art und Weise, wie der Begriff der Wahrheit genutzt wird, die stutzig macht und womöglich eine gesellschaftlich und politisch negative Wirkung entfaltet. Er bezieht sich hier nicht, wie man es erwarten könnte, allein auf Dinge, die sich intersubjektiv überprüfen lassen im Sinne von Sachverhalten, Fakten und Naturgesetzen; bei Letzteren spricht Haber (2010) beispielsweise von „Wahrheiten der Ökologie“. Vielmehr ist der Wahrheitsbegriff hier ausgedehnt und bezieht sich auch auf Werte, Normen, Glauben, Einstellungen und Deutungen sowie auf ganze Planungstheorien. Dabei steht im Hintergrund, dass im Ansatz der Postmoderne die Unterscheidung von Fakten und Normen/Werten ohnehin als nicht möglich angesehen wird (Farthing 2016). Entsprechend ist der Wissensbegriff ebenfalls ausgedehnt.

Diese undifferenzierte Vorstellung macht es jedoch nicht leicht, produktive gesellschaftliche Diskussionen zu führen, und wertet tendenziell die Wissenschaft ab, die ja gerade über subjektive Wahrnehmungen hinausgehen will. Die unverzichtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit der Geistes- und Sozialwissenschaften mit den Natur- und Ingenieurwissenschaften, der Ökonomik und der Rechtswissenschaft, in denen man in der Regel mit den Ideen der Postmoderne wenig anfangen kann, wird erschwert. Zudem fördert der weite Wahrheits- und Wissensbegriff nicht gerade die transdisziplinäre Forschung: Nur wenige Planerinnen und Planer sowie Bürgerinnen und Bürger dürften die Vorstellung nachvollziehen können, dass es in ihrer Welt weder Wahrheit noch Realität gibt und alle erdenklichen Formen des Wissens gleichwertig sind.

Es lässt sich schwerlich dagegen argumentieren, dass sich Gesellschaft und Kultur mit all ihrem Weltverständnis in einem historischen sozialen Prozess entwickelt haben, den man „soziale Konstruktion“ nennt; nichts Soziales ist einfach naturgegeben. Zu bedenken ist jedoch, dass die genannten Vertreterinnen und Vertreter der Postmoderne diese Erkenntnis auch mit einer besonderen und nicht immer explizit ausgesprochenen normativen Grundposition verknüpfen. Sie haben das Ziel einer radikalen gesellschaftlichen Emanzipation, wie man es auch aus der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule oder der Kritischen Geographie kennt, die auf der generellen Ablehnung sozialer Über- und Unterordnung bzw. von Ungleichheit überhaupt fußt. Da Macht und Wissen als eng miteinander verbunden angesehen werden, gelten dabei eben alle Formen von Wissen als gleichwertig. Wer so verstandene Ungerechtigkeiten nicht erkennt bzw. sich nicht daran stößt, den hat letztlich entweder das System verblendet, oder er ist ein Nutznießer desselben. Wissenschaft stützt in diesem Zusammenhang mit der vermeintlichen Wahrheit nur das repressive kapitalistische System. So wird aus dem „sozial konstruiert“ schnell ein „nur sozial konstruiert“, was auch als Aufforderung zur radikalen Veränderung von Gesellschaft und Kultur interpretiert werden kann.

Ein zu weiter Wahrheits- und Wissensbegriff schadet auch der Bewältigung der Klima- und Biodiversitätskrise – sie ist die Herausforderung des Jahrtausends, auch im Hinblick auf Verteilungsgerechtigkeit. „Listen to the science“ rufen verzweifelt die jungen Leute von Fridays for Future. An der Existenz der lebensbedrohenden Probleme lässt sich kaum mehr zweifeln. Zwar sind selbst im kritischen Rationalismus nach Karl Popper immer Zweifel angebracht; immer wieder muss gewissenhaft intersubjektiv geprüft werden. Aber positives, nach anspruchsvollen Methoden von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern generiertes Wissen auf eine Stufe zu stellen mit einfachen persönlichen Wahrnehmungen und Wertungen kann großen Schaden anrichten. Soll man auf die Ambition verzichten, die Wahrheit herauszufinden oder sich ihr zumindest anzunähern? Ist ein Faktencheck nur eine Illusion?

Benjamin Davy, Meike Levin-Keitel und Franziska Sielker werfen die sehr wichtige Frage des Umgangs mit der zunehmenden „brutalen Pluralität“ auf, die etwa kommunikative Planung weniger aussichtsreich macht. Bei allem Respekt ist jedoch zu kritisieren, dass die nachvollziehbar diagnostizierte „brutale Pluralität“ im Kontext der Idee der Postmoderne gestellt wird. Dass es oft unterschiedliche Perspektiven, Vorstellungen und Positionen gibt, dürfte von niemandem bestritten werden. Dass es aber gar keine Wahrheit, gar keine Fakten und gar keine Realität gibt, erscheint lebens- und planungspraktisch eher als philosophische Spitzfindigkeit und despektiert Wahrheit als eine zentrale Kategorie des friedlichen menschlichen Zusammenlebens. Alles in Pluralität zu relativieren ergibt letztlich nur Sinn, wenn die Gesellschaft und die (westliche) Kultur grundsätzlich infrage gestellt werden soll und Reformen als nicht aussichtreich gelten. So droht sich die Wissenschaft von der Mitte der Gesellschaft zu entfernen. Es besteht die Gefahr, dass dadurch Platz entsteht für rechte, antidemokratische Populisten, die den Klimawandel leugnen. Diese berufen sich zunächst darauf, gleichberechtigt in der Pluralität wahrgenommen zu werden, um dann zu versuchen, die Vorherrschaft zu gewinnen und die Pluralität zu beenden. Zugleich lassen sich gesellschaftspolitische Strömungen wie Multikulturalismus und Feminismus, die ihre Wurzeln mit im postmodernen Denken haben, in ihrer radikalen Ausprägung leicht als mobilisierendes Feindbild aufbauen.

Mit ein Grund für das postmoderne Framing der „brutalen Pluralität“ könnte sein, dass die von den Autorinnen und dem Autor geführte Diskussion stark von den spezifischen deutschen gesellschaftlichen und institutionellen Gegebenheiten abstrahiert. Der Verfasser dieses Kommentars hofft zumindest, dass die deutsche Gesellschaft noch nicht so polarisiert ist, wie etwa die vom radikalen Neoliberalismus geschädigten Gesellschaften in Ländern wie Großbritannien und den USA, wo viele maßgebliche Planungstheoretikerinnen und -theoretiker arbeiten. Abgesehen davon, dass Planerinnen und Planer auch Vorgaben aus den unmittelbaren politischen Prozessen und Entscheidungen bekommen, bieten in Deutschland schon das existierende Rechtssystem und die Verfassung viele spezifische Rahmenbedingungen und Orientierungen, die es in anderen Ländern so nicht gibt (z. B. Würde des Menschen, Sozialstaatsprinzip, Raumordnungs- und Umweltrecht).

Selbst bei der gewiss ernst gemeinten Offenheit der angesprochenen Autorinnen und des Autors ist angesichts des postmodernen Framings nebenbei zu befürchten, dass – um auf den Titel des angesprochenen Aufsatzes zurückzukommen – doch nicht alle planungstheoretischen Ansätze gleiche Wertschätzung genießen. Es ist Skepsis angebracht, was die Möglichkeit der von der AESOP-Gruppe gewünschten Überwindung von Polarisierungen in der Planungstheorie anbelangt.

Insgesamt ist dringend eine stärkere Fokussierung auf die ganz großen Herausforderungen unserer Zeit erforderlich, ohne dabei gleich alles infrage zu stellen. Die Klima- und Biodiversitätskrise wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alle anderen Probleme völlig überlagern und entscheidend verschärfen. Die Zerstörung der Lebensgrundlagen trifft erst die Schwächsten und dann, in einer nicht allzu fernen Zukunft, alle Menschen. Hier hilft es eher, auch wenn es paradox klingt, dass sich die Gesellschaft zuversichtlich auf den Wert ihrer Kultur, ihrer Traditionen und ihrer Institutionen besinnt. Dies beinhaltet auch die Idee der Planung als Beitrag zur Lösung von Problemen, wie Diller und Oberding (2017: 63) sie gegenüber einer „allzu konstruktivistischen Sichtweise“ verteidigen. Dabei heben sie hervor, dass Planungsprozesse als diskursive Prozesse nicht gänzlich losgelöst sein können von messbaren und damit intersubjektiv prüfbaren Entwicklungen des Umweltsystems. Eine pragmatische Orientierung an der Wahrheit ist daher genauso unverzichtbar wie eine tatkräftige und gesellschaftspolitisch nicht überambitionierte Ausrichtung von Politik und Planung. Und bei aller Wertschätzung von Pluralität sollte die Pflege des wissenschaftlich und gesellschaftlich Verbindenden keinesfalls vernachlässigt werden.

Competing Interests  
The author declares no competing interests.
Acknowledgements  
The author thanks the editorial board of this journal for valuable comments to a previous version of this commentary. They helped sharpening the line of reasoning.
Funding  
This work received no external funding.


Literatur

Davy, B.; Levin-Keitel, M.; Sielker, F. (2023): Plural planning theories: cherishing the diversity of planning. In: European Planning Studies 31, 11, 2267–2276. https://doi.org/10.1080/09654313.2023.2217852
 
Diller, C.; Oberding, S. (2017): „Probleme zuerst“ – ein banaler, überholter Imperativ in der Raumplanung? Theoretische Überlegungen und empirische Befunde. In: disP – The Planning Review 53, 4, 55–70. https://doi.org/10.1080/02513625.2017.1414492
 
Farthing, S. (2016): Research design in urban planning. A student’s guide. London. https://doi.org/10.4135/9781473921375
 
Haber, W. (2010): Die unbequemen Wahrheiten der Ökologie. Eine Nachhaltigkeitsperspektive für das 21. Jahrhundert. München.
 
Schwaabe, C. (2018): Politische Theorie. Von Platon bis zur Postmoderne. Paderborn.