Mobilität, verstanden als Phänomen der Ortsveränderung, ist der Betrachtungsgegenstand einer ganzen Reihe von Disziplinen. Mit dem Unterwegssein des Menschen beschäftigen sich Teilgebiete der Geographie, der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaften oder der Ingenieurwissenschaften. Je nachdem, welcher Denkschule sich die einzelnen Autorinnen und Autoren zuordnen, nehmen sie einen eigenen Blickwinkel ein, haben eine eigene Fachbrille auf und ein eigenes Vokabular. Alexander Rammert hat mit dem Titel „Der Mobilitätsindex“ den Anspruch formuliert, die Perspektiven zusammenzuführen. Damit ist das Ziel bereits kurz umrissen: Indem der Autor eine Vielzahl von Indikatoren zur Beschreibung von Mobilität aus den unterschiedlichen Fachperspektiven in einem Indikatorensystem vereint, erarbeitet er einen Vorschlag zur Operationalisierung von Mobilität, der nicht an die Grenzen einer Perspektive gebunden ist.
„Der Mobilitätsindex“ ist als Band 12 der Reihe „Mobilität und Gesellschaft“ im Lit-Verlag erschienen und zugleich die Promotionsschrift des Autors. Das Buch passt gut in das Konzept der Reihe, die sich kritisch mit den gesellschaftlichen Prozessen eines ungezügelten Verkehrswachstums auseinandersetzt. Als Dissertation verfolgt der Aufbau die klassische Struktur einer Laufbahnschrift: eine ausführliche Auseinandersetzung mit Definitionen und theoretischen Ansätzen, die detaillierte Darlegung des Vorgehens und der Methodik, die Entwicklung eines eigenen Ansatzes, dessen Erprobung und schließlich Implikationen für die Praxis.
Der Vorschlag für einen universalen Mobilitätsindex ist das Ergebnis der Arbeit. Der Index ist eine Kombination aus 35 Kernindikatoren, die sich auf drei Bereiche verteilen. Beispiele sind: Subjektive Erreichbarkeit im motorisierten Individualverkehr und Lebenszufriedenheit im Bereich „Dispositionen“, Alter und Zugang zum öffentlichen Nahverkehr im Bereich „Individuelle Voraussetzungen“ oder Einwohnerdichte und ÖPNV-Erreichbarkeit von Grundversorgungsmöglichkeiten im Bereich „Strukturelle Rahmenbedingungen“.
Die Zusammenstellung nutzt dabei die klassischen, stark an Strukturdaten ausgerichteten Messverfahren der Verkehrswissenschaft und kombiniert sie mit den an Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen ausgerichteten Betrachtungen der sozialwissenschaftlich orientierten Mobilitätsforschung. Diesen Ansatz stützt Alexander Rammert auf eine ausführliche Diskussion der vorherrschenden Theorien im Kontinuum der Verkehrs- und Mobilitätsforschung. Er leitet ein eigenes Modell ab, das er als holistisches Ordnungsschema für Mobilität bezeichnet und das sich zusammensetzt aus Gesellschaftsfaktoren, Erreichbarkeitsfaktoren sowie einem objektiven und subjektiven Möglichkeitsraum.
Die Arbeit wäre unvollständig, wenn nicht auch die Anwendbarkeit des bis dahin theoretisch gefassten Mobilitätsindexes in der Planungspraxis demonstriert würde. Alexander Rammert wählt den Berliner Stadtteil Pankow und erprobt hier sein Instrumentarium. Pankow wählt er, da „einzig in diesem Untersuchungsgebiet solch umfassende Struktur- und Nutzerdaten, die für die Mobilitätsmessung benötigt werden, erfasst wurden“ (S. 251). Damit zeigt sich bereits, dass die Anwendung des Indexes mit einiger Vorarbeit verbunden ist. Denn es genügt nicht, auf vorhandene Strukturdaten und Sekundärstatistiken zurückzugreifen, für die am Individuum orientierten Indikatoren sind eigene Erhebungen gefragt. Die Arbeit schließt mit Beispielen für die Verwendungen des Mobilitätsindex ab, wobei Alexander Rammert zeigt, wie dieser als Evaluierungs- oder Planungsinstrument eingesetzt werden kann.
Alexander Rammert hat seine Arbeit im Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der Technischen Universität Berlin verfasst. Hätte er sie an einem anderen Fachgebiet einer anderen technischen Fakultät geschrieben, wäre der Mobilitätsindex wohl bei einem Vorschlag für ein Planungs- und Bewertungsinstrument verblieben. Die durch das Fachgebiet maßgeblich gestaltete integrierte Verkehrsplanung verfolgt nun aber den Ansatz, die Schwächen der einen Disziplin mit den Stärken der anderen auszugleichen. Dafür muss man zunächst Unzulänglichkeiten der eigenen Herangehensweise anerkennen und vor allem behütete Grenzen überwinden. Indem „Der Mobilitätsindex“ die Kernelemente sowohl qualitativer als auch quantitativer Ansätze in einer Metrik kombiniert, kann er als Brücke gelesen werden, die es den Disziplinen ermöglicht, aufeinander zuzugehen. In Bezug auf die Planungspraxis verfolgt Alexander Rammert einen ähnlich ehrgeizigen Anspruch: „Das von mir deklarierte Ziel des Mobilitätsindex ist es, eine Methodik zu entwickeln, welche die deutsche Verkehrsplanung dabei unterstützt, die Mobilität als vollwertige Planungsgröße in ihren Gestaltungsraum aufzunehmen“ (S. 418). Dieser Anspruch ist eine Stärke der Arbeit – zugleich aber auch ihre Schwäche. Es ist ein nicht wenig ambitioniertes Unterfangen, ein Instrumentarium aufzustellen, mit dem sich ein solch komplexes Phänomen wie Mobilität allgemeingültig erfassen lässt. Ob es dem Atuor gelungen ist, wird sich herausstellen, wenn eine erste relevante Zahl an Akteuren den Index adaptiert hat.
Die Besonderheit der Arbeit liegt im System der 35 Indikatoren. Nicht nur, dass jeder einzelne Indikator sorgfältig beschrieben ist und Auskunft über je einen Teilaspekt von Mobilität gibt, bei der Zusammenstellung hat Alexander Rammert auch darauf geachtet und theoretisch untermauert, wie die Indikatoren zusammenwirken, um Mobilität sowohl auf der Ebene der Infrastruktur einer Planungsregion als auch aus der Perspektive der Menschen zu beschreiben. Er hat die Indikatoren zusätzlich von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Planungspraxis gewichten lassen. Auf diese Weise ist es ihm gelungen, Hinweise auf die Bedeutung jedes einzelnen Indikators im Gesamtgefüge des Systems zu generieren. Der Mobilitätsindex lässt sich somit nicht nur als ein Planungsinstrument verstehen. Wer sich mit den strukturellen und individuellen Rahmenbedingungen von Mobilität auseinandersetzt, findet eine Fülle von Anregungen, wie sich das Phänomen operationalisieren lässt.
Als Laufbahnschrift knüpft „Der Mobilitätsindex“ zuerst an die Debatten in der Wissenschaft an, ohne dabei aber die Planungspraxis aus dem Auge zu verlieren. Jene Leserinnen und Leser, die sich mit den Theorien rund um Mobilität und Fortbewegung befassen, erhalten einen umfangreichen Einblick in die aktuellen Auseinandersetzungen im Kontinuum der qualitativen und quantitativen Verkehrs- und Mobilitätsforschung. Um den Zugang für die Planerinnen und Planer zu erleichtern, sollte es zunächst von der Last der für die Qualifizierung notwendigen Ausführungen befreit werden. Insofern wäre es wünschenswert, wenn aus der Arbeit noch ein Kompendium hervorginge, das der Verkehrsplanung die Grundlagen erschließt und einen Handlungsleitfaden zur Anwendung des Mobilitätsindexes zur Hand gibt. Der Wert der Arbeit liegt dann auch im integrativen Ansatz. Er zeigt, es ist möglich – wir können Theorie und Praxis, klassische Verkehrswissenschaft und sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung zusammen denken und den Menschen in den Mittelpunkt einer integrierten Verkehrsplanung stellen.