Angesichts aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen, wie der steigenden Verkehrsnachfrage, damit verbundener Umweltbelastungen sowie Flächennutzungskonflikten, ist die Dringlichkeit einer Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs und der Schaffung alternativer nachhaltiger Mobilitätsangebote zunehmend Gegenstand der gesellschaftlichen Debatte. Der 2023 im Jovis Verlag erschienene Sammelband „Mobility Design. Die Zukunft der Mobilität gestalten. Band 2: Forschung“ nimmt diese Herausforderungen als Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit der Frage, wie menschenfreundliche, umwelt- und sozialverträgliche Mobilitätssysteme für eine lebenswerte Zukunft geplant und gestaltet werden können.
Während in Band 1 (Eckart/Vöckler 2022) der Schwerpunkt auf der „gestalterischen Praxis“ lag und eine Zusammenstellung internationaler Best Practice-Beispiele bot, widmet sich Band 2 (264 Seiten) der wissenschaftlichen Fundierung und Kontextualisierung, einschließlich methodischer und methodologischer Argumente im interdisziplinären Diskurs zwischen Architektur, Design, Geographie, Mobilitätsforschung, Psychologie, Sozialwissenschaften, Stadt- und Verkehrsplanung sowie Informations- und Kommunikationstechnologien.
Die beiden im Jovis Verlag erschienenen Buchbände dokumentieren die Ergebnisse einer vierjährigen Forschungsarbeit zum Thema Mobilitätsdesign. Mobilitätsdesign wird von den Autorinnen und Autoren im Einleitungskapitel wie folgt definiert: „Mobilitätsdesign gestaltet die Interaktion der Nutzenden mit dem Mobilitätssystem, das sich aus zeit- und bewegungsbasierten Nutzungsprozessen, der physischen Gestalt und Organisation von Produkten und Räumen, dem digitalen Interface, der Logik der Informationsvermittlung sowie den dahinterliegenden technischen Systemen zusammensetzt“ (S. 12). Hierbei steht stets die Gestaltung des Mobilitätserlebnisses der Nutzenden im Zentrum. So fragt die Disziplin des Mobilitätsdesigns beispielsweise, wie die Interaktion von Menschen mit der Verkehrsinfrastruktur, mit Transportmitteln, Bauwerken, Objekten und virtuell wie analog bereitgestellten Informationen gestaltet sein soll, um ein positives Mobilitätserlebnis zu ermöglichen. Der Fokus des Sammelbandes liegt dabei auf dem Beitrag der Designforschung für die Entwicklung multimodaler, umweltfreundlicher Mobilität, insbesondere hinsichtlich einer am Menschen und seinen Bedürfnissen ausgerichteten Neugestaltung des Mobilitätsystems.
Die Interdisziplinarität des Themas spiegelt sich in der Auswahl an theoretischen und methodologischen Perspektiven sowie den Beteiligten wider. Die Herausgeberschaft setzt sich zusammen aus: Peter Eckart, Produktdesigner und Professor für Integrierendes Design an der Hochschule für Gestaltung Offenbach; Martin Knöll, Architekt und Professor für Entwerfen und Stadtplanung an der Technischen Universität Darmstadt; Martin Lanzendorf, Professor für Mobilitätsforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; Kai Vöckler, Urbanist und Professor für Urban Design an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main. Zudem sind weitere rund 20 renommierte Autorinnen und Autoren am Band beteiligt, die beispielsweise aus der Perspektive der Verhaltenspsychologie theoretische Grundlagen zur Erklärung von Mobilitätsverhalten und dessen Beeinflussung erläutern.
Der Band ist thematisch unterteilt in die Oberkapitel Mobility Design, Connective Mobility, Active Mobility, Augmented Mobility und Visionary Mobility. Die Beiträge in den Kapiteln befassen sich also mit der Gestaltung von Strukturen neuer Mobilität, mit der Gestaltung von aktiver Mobilität sowie der Erweiterung von Mobilität durch die virtuelle Dimension und zukünftigen Visionen eines multimodalen, vernetzten und nachhaltigen Verkehrs.
Vom Standpunkt des Mobilitätsdesign liegt der Fokus immer auf dem Mobilitätserlebnis der Nutzenden, das heißt der Menschen, die sich in einem Verkehrssystem bewegen. Die Gestaltung von Mobilitätslösungen und deren Nutzung ist somit in hohem Maße vom Design der Nutzungserfahrung abhängig. Basierend auf dieser Annahme werden im Buch drei Bedeutungsebenen identifiziert, die durch Design formuliert und geformt werden können: die affektive Wirkung (ästhetische Dimension), die Nützlichkeit (praktische Dimension), die Bedeutung von Artefakten (symbolische Dimension). Artefakte haben immer soziale und kulturelle Bezüge sowie Identifikationsangebote, die in ihrer symbolischen Bedeutung der Selbstvergewisserung dienen. Entsprechend schaffen Artefakte Bedeutung, die weit über ihre praktische Funktion hinausgeht.
Meine Aufmerksamkeit hat besonders der Beitrag von Kai Vöckler und Peter Eckart zum „Offenbacher Ansatz“ (S. 32–49) geweckt. Die Autoren greifen den in den 1970er-Jahren entwickelten Ansatz als eine Theorie der Produktsprache auf, die die Beziehung zwischen Mensch und Objekt als zentrale Gestaltungsaufgabe von Design versteht. Durch die Interaktion von Mensch und Objekt entsteht Bedeutung, die sich in der individuellen Wahrnehmung entfaltet. Das Offenbach-Modell, wie es im Sammelband von Kai Vöckler und Peter Eckart beschrieben wird, ist als Ansatz des humanzentrierten Mobilitätsdesign zu verstehen, welches das Ziel hat, menschzentrierte Mobilität zu fördern, indem durch Design Menschen und ihre Bedürfnisse im Zentrum der Gestaltung eines Transportsystems stehen. Dabei sollen Nachhaltigkeit, Intermodalität, geteilte Mobilität sowie das Mobilitätserlebnis in digitaler und physischer Umgebung Beachtung finden.
Um die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer stärker in das Design des Transportsystems einzubeziehen, wurden drei Interaktionsbereiche definiert: (1) der Zugang: Dies betrifft die erfolgreiche und barrierefreie Nutzung eines (Mobilitäts)angebots, wobei eine starke Betonung auf Funktionalität liegt. Es umfasst z. B. Orientierung, Informationen, Kohärenz, Benutzerinnen- und Benutzerfreundlichkeit, intuitive Nutzung und Design für alle; (2) das Erlebnis: Dies wird als ein sozial-emotionaler Faktor mit ästhetischer Dimension verstanden. Es betrifft z. B. die Qualität des Erlebnisses für eine positive emotionale Bewertung, das (subjektive) Sicherheitsgefühl, das Autonomiegefühl, Annehmlichkeit/empfundenes Wohlbefinden und die Sozialität und Privatsphäre; (3) die Identität: Dies betrifft die Identifikation mit dem Mobilitätssystem oder Angebot. Es umfasst z. B. die Schaffung von Bedeutung und Förderung einer emotionalen Bindung etwa durch Komfort, aber auch Status.
Das im Buch beschriebene Offenbach-Modell identifiziert damit neue Interaktionsbereiche zwischen Nutzenden und Mobilitätssystem, welche für das Design des gesamten Mobilitätssystems herangezogen werden können. Eine systematische Auseinandersetzung mit solchen Interaktionsbereichen über eine technische Betrachtung hinaus eröffnet die Möglichkeit, das Nutzungserlebnis weiter zu verbessern, so die Autorinnen und Autoren.
Die Lektüre des Sammelbandes hat mich als Verkehrsforscherin sehr inspiriert. Teilweise offen bleibt für mich die Frage, wie wissenschaftliche Daten und Erkenntnisse aus der Mobilitätsforschung unter anderem zu Verhaltensweisen, Präferenzen oder Einstellungen systematisch Eingang in den Designprozess und die Gestaltung neuer Mobilitätslösungen finden können. Meiner Meinung nach braucht es noch mehr Konzepte, Methoden und Tools, die in der Lage sind, diesen Transfer zu ermöglichen und zu evaluieren. Vielleicht eine Idee für einen dritten Band?