Das Buch „Bavarität“ von Mark Kammerbauer beschäftigt sich mit der vielschichtigen Baukultur in Bayern und wie sie auf multiple Krisen reagiert, historisch und in der Gegenwart. Der Autor verknüpft dafür Ansätze aus Architektur, Städtebau und Stadtplanung in einem sozioökonomischen und kulturellen Kontext. Besonders hervorgehoben wird dabei der partizipative Ansatz, aber auch die Frage, wie Baukultur im öffentlichen Raum gesehen und verstanden, aber auch imaginiert werden kann. Es handelt sich um eine Sammlung von teils sehr unterschiedlichen Aufsätzen, die der Autor zu Themen der Baukultur verfasst hat.
Baukultur in Bayern steht in einem steten Spannungsfeld aus Urbanität und Ruralität, aus Bodenständigkeit und Internationalität. Im Kontext des ländlich-städtischen Kontinuums, in dem Tradition und Moderne interagieren, schlägt der Autor den Begriff „Bavarität“ für diese soziokulturelle Leistung vor. Sehr deutlich wird dies am Beispiel des Tucherparks im Englischen Garten in München, einem der ersten ‚modernen‘ Büroparks in Deutschland. Der Bauherr machte gemeinsam mit dem Architekten Sepp Ruf eine Studienreise in die USA und wollte sich am Vorbild Mies van der Rohe orientieren, um die Internationale Moderne nach München zu holen. Mark Kammerbauer imaginiert diese Reise mit möglichen Begegnungen. Letztlich wurde aus dem Tucherpark ein „bavarisch“ adaptiertes Projekt, eine spezifische Mischung aus US-Einfluss und bayerischer Interpretation. Dieser einst zeitgemäße Büropark steht jetzt unter Denkmalschutz, er muss mit seinen funktionalen und baulichen Mängeln saniert werden, über die künftige Umplanung wird heftig diskutiert.
Mark Kammerbauer verweist immer wieder auf die Bedeutung von Baukultur für die Krisenbewältigung, nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs oder nach Naturkatastrophen. Dafür zeigt er ausführlich einige Beispiele des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit, wie das Pellerhaus in Nürnberg als schöpferische Wiederherstellung, ein wunderbares Beispiel der Nachkriegsarchitektur, das heute wieder umstritten ist. Seine These ist, dass Krisen im Raum sichtbar werden, und dass umgekehrt Baukultur auf Krisen bzw. Krisenbewältigungen hinweisen kann. Dafür zeigt er Beispiele aus der Zeit der Pandemie, wo zuerst in prekären Wohnlagen und Massenunterkünften das Virus ausbrach, und wo das Virus bekämpft wurde, ohne die wohnungspolitischen Probleme anzugehen.
Außerdem werden Beispiele der Zersiedelung der Landschaft durch große Gewerbebetriebe gezeigt und aus dem Wiederaufbau nach Hochwasserkatastrophen. Mark Kammerbauer betont hier neben der baulichen Resilienz auch die sozialen und bürokratischen Probleme. Letztlich plädiert er für „Sonderplanungsbereiche“, in denen Kompetenzen konzentriert werden, Verfahren beschleunigt, Partizipation gebündelt, um den Wiederaufbau nicht inkrementalistisch, sondern im Rahmen einer Gesamtstrategie zu bewältigen – ein wichtiger Ansatz für einen strategischen, planerischen Wiederaufbau, der viel zu selten verfolgt wird.
Die grundsätzliche Frage dahinter lautet immer wieder: Kann der Wiederaufbau nicht nur als Rekonstruktion, sondern nachhaltiger und besser erfolgen, im Sinne einer resilienten Stadtentwicklung, eines „building back better“-Ansatzes? Die Beispiele sind anschaulich und einprägsam, leider wird aber zu wenig in die generellen Dimensionen der urbanen Resilienz und Optionen des Wiederaufbaus eingeführt. Hier liegen inzwischen in der Resilienzforschung, mit dem „Memorandum Urbane Resilienz“ und mit verschiedenen internationalen Beispielen bereits wichtige Erkenntnisse vor.
Für den Rezensenten, der selbst aus Berlin und dem preußischen Kulturraum entstammt, ist es interessant und herausfordernd zugleich, sich einer spezifischen bayerischen Baukultur zu nähern – zumal ja Bayern selbst aus zahlreichen unterschiedlichen Kulturräumen besteht. Gibt es tatsächlich eine besondere „bavarische“ Baukultur oder sind es doch eher regionale und ortsspezifische Ansätze, die sich im deutschen, europäischen und internationalen Diskurs bewegen? Wie stark bezieht sich die bayerische Baukultur auf Leitbilder der EU wie die Leipzig Charta, und auch auf in der Nationalen Stadtentwicklungspolitik oder im Baugesetzbuch formulierte Leitbilder der Stadtplanung und des Städtebaus? Diese Fragen bleiben teilweise offen bzw. sie müssen am Einzelfall diskutiert werden.
Bayern ist einer der wenigen deutschen Flächenstaaten, in dem es bis heute keinen eigenständigen Studiengang der Stadt- und Raumplanung gibt und in dem diese Profession einen schweren Stand hat, sich zu behaupten. In der Baukultur und in den Standortentscheidungen in Bayern ist dies sichtbar. Viele Projekte, die aus einem gewissen Wohlstand und Reichtum Bayerns entsprangen, werden kaum in den Kontext einer städtebaulichen Idee oder gar einer übergeordneten Stadtplanung oder Raumordnung gesetzt. Baukultur sollte aber immer auch mit Planungskultur einhergehen. In diesen Zeiten, in denen nicht nur der Klimawandel, sondern auch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine unsere bisherigen Gewissheiten infrage stellt, muss die Baukultur deutlich risikobewusster und resilienter werden. Es ist wieder mehr Bestandspflege gefragt, aber auch der präventive Bestandsumbau zur Stärkung der urbanen Resilienz. Das Buch gibt hierfür interessante Anregungen und Beispiele, wenn auch eher sukzessiv und additiv, die noch in eine Gesamtstrategie einer bavarischen Bau- und Planungskultur einzufügen wären.