© by the author(s); licensee oekom 2022. This Open Access article is published under a Creative Commons Attribution 4.0 International Licence (CC BY).
https://doi.org/10.14512/rur.454
Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning (2023) 81/2: 170–187
rur.oekom.de

Politik- und Praxis-Perspektive/Policy and Practice Perspective

Ermittlung des Wohnbauflächenbedarfes unter Berücksichtigung kleinräumiger Wanderungsbewegungen. Ein Praxisansatz am Beispiel der Region Halle-Leipzig

Thorben Sell Contact Info, Anna Dunkl Contact Info, Sebastian Henn Contact Info , Annedore Bergfeld Contact Info

(1) Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Löbdergraben 32, 07743 Jena, Deutschland
(2) Leibniz-Institut für Länderkunde, Schongauerstraße 9, 04328 Leipzig, Deutschland

Contact InfoM.Sc. Thorben Sell  (Corresponding author)
E-Mail: thorben.sell@uni-jena.de

Contact InfoM.Sc. Anna Dunkl 
E-Mail: a_dunkl@leibniz-ifl.de

Contact InfoProf. Dr. Sebastian Henn 
E-Mail: sebastian.henn@uni-jena.de

Contact InfoDr. Annedore Bergfeld 
E-Mail: a_bergfeld@leibniz-ifl.de

Eingegangen: 15. Mai 2022  Angenommen: 27. September 2022  Online veröffentlicht: 11. November 2022

Zusammenfassung  
Kleinräumige, vielfach polarisierende und durch Wanderungen geprägte Veränderungen der Bevölkerungsstruktur wirken entscheidend auf die aktuelle Siedlungsentwicklung in Deutschland ein. Wenngleich die Landes- und Regionalplanung versucht, die damit in Verbindung stehenden Wohnbauflächenbedarfe zu steuern, kommt es infolge einer Konkurrenz der Gemeinden um potenzielle Wanderungsgewinne vielfach zu einer ungeregelten Ausweisung von Wohnbauflächen innerhalb der Gesamtregion. Für den vorliegenden Beitrag ist dies der Anlass, einen Ansatz für eine interkommunal abgestimmte, demographischen Entwicklungen Rechnung tragende Wohnbauflächenbedarfsermittlung zu entwickeln, um auf diese Weise die Flächeninanspruchnahme insgesamt zu verringern. In einem ersten Schritt werden dazu die aus zu erwartenden kleinräumigen Wanderungen ableitbaren Wohnbauflächenbedarfe in Form von unterschiedlichen Szenarien gemeindekonkret dargestellt. In einem zweiten Schritt gilt es, mittels eines Prüforteansatzes solche Gemeinden zu identifizieren, die aufgrund ihrer Ausstattungs- und Erreichbarkeitsmerkmale geeignet scheinen, zusätzliche Wohnbauflächenbedarfe aufzunehmen. In einem dritten Schritt werden die ermittelten Wohnbauflächenbedarfe mithilfe verschiedener Indikatoren Prüforten zugeordnet. Der Ansatz wird am Beispiel der Region Halle-Leipzig illustriert.

Schlüsselwörter  Siedlungsentwicklung – Regionalplanung – Wohnbauflächenentwicklung – Wanderungstrends – regionales Flächenmanagement – dezentrale Konzentration


Determination of the demand for residential building land taking into account small-scale migration movements. A practical approach using the example of the Halle-Leipzig region
Abstract  
Small-scale, often polarizing changes in the population structure characterized by migration, have a crucial influence on the current development of settlements in Germany. Although state and regional planning tries to manage related demands for residential areas, competition for potential migration gains on the municipal level often leads to an unregulated development of residential areas within the region. This paper therefore seeks to develop an approach for an inter-municipally coordinated planning of residential areas, which takes into account demographic developments, in order to reduce the overall land consumption. In a first step, the residential land requirements that can be derived from expected small-scale population movements are presented in the form of different scenarios for specific municipalities. In a second step, a screening approach is used to identify those municipalities that appear to be suitable for accommodating additional residential development land requirements on the basis of their amenities and accessibility. In a third step, the identified residential land requirements are assigned to test areas with the help of various indicators. The approach is illustrated using the example of the Halle-Leipzig region.

Keywords  Settlement development – Regional planning – Residential area development – Migration trends – Regional area management – Decentralized concentration


1  Einleitung

Den Nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals (SDG)) der Vereinten Nationen und den daraus abgeleiteten Empfehlungen (z. B. „Flächen sparen: Eine ökologische, ökonomische und soziale Notwendigkeit“ seitens des Beirats für Raumentwicklung 2019: 2) zufolge ist es erklärtes Ziel der Siedlungsentwicklung in Deutschland, die jährliche Flächen(neu)inanspruchnahme auf ein Minimum zu beschränken. Der bedarfsgerechten Bereitstellung kommunaler Wohnbauflächen fällt in diesem Zusammenhang aus zwei Gründen eine zentrale Rolle zu (Hoymann/Goetzke 2018: 677): Erstens macht die Wohnbaufläche mit 41,7 % den größten Teil der Flächennutzung „Siedlung“ aus.1 Zweitens weist die Entwicklung der Flächen für Siedlung und Verkehr mit einem Anstieg des vierjährigen Mittels (2017-2020) auf rund 54 Hektar pro Tag2 eine besonders hohe Dynamik auf.

Bei der Betrachtung der Wohnbauflächenbereitstellung ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der kommunalen Eigenentwicklung, die den Flächenbedarfen der bereits ortsansässigen Bevölkerung Rechnung trägt, und der Deckung aus Wanderungen resultierender zusätzlicher Wohnbauflächenbedarfe, im Folgenden kurz: Zusatzbedarfe. Während die Eigenbedarfsentwicklung als ein Kernelement der kommunalen Planungshoheit anzusehen ist, ist die Berücksichtigung von Zusatzbedarfen nur den im jeweiligen Regionalplan speziell ausgewiesenen Kommunen (in der Regel Zentrale Orte) vorbehalten. In praxi hat sich diese Trennung aus verschiedenen Gründen allerdings nicht bewährt: So bilden heute zahlreiche Kommunen in ihren Planungen wanderungsbedingte Bevölkerungszuwächse flächenwirksam ab, beispielsweise mit dem Ziel, einer Schrumpfung vorzubeugen, auch wenn sie durch die Regionalplanung dazu nicht explizit legitimiert wurden. In der Folge kommt es vielerorts zu einer Bereitstellung von Wohnbauflächen, die sich weitgehend losgekoppelt von den tatsächlichen regionalen Bedarfen vollzieht und oftmals als nicht nachhaltig zu charakterisieren ist – eine Entwicklung, die im Übrigen durch fehlende interkommunale Abstimmungsgrundlagen zur Abschätzung wanderungsbedingter Wohnbauflächenbedarfe weiter verstärkt wird.

Mit dem Ziel, Zusatzbedarfe in interkommunalen Abstimmungsprozessen besser berücksichtigen zu können, stellt der vorliegende Beitrag einen Ansatz vor, der die mit Wanderungen einhergehenden Veränderungen der Wohnbauflächenbedarfe verschiedener Gemeinden eines Raums miteinander in Beziehung setzt. Konkret stellt er darauf ab, solche Gemeinden zu identifizieren, die über ihre zentralörtliche Funktion hinaus in besonderer Weise geeignet scheinen, Wanderungsgewinne aufzunehmen. Darüber hinaus bietet er über die Berücksichtigung geeigneter Indikatoren eine Grundlage zur szenariengestützten Berechnung von Wohnbauflächenbedarfen.

Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Im nächsten Kapitel wird die gegenwärtige Praxis der Steuerung der Wohnbauflächenentwicklung dargelegt. Anschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit der wanderungsbedingten Siedlungsflächeninanspruchnahme in der aktuellen Praxis der Landes- und Regionalplanung und den damit verbundenen Steuerungsdefiziten (Kapitel 3). Aufbauend aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen wird ein Ansatz zur räumlichen Verteilung von erwarteten Wanderungsgewinnen erarbeitet (Kapitel 4), welcher im Anschluss auf die Region Halle-Leipzig angewendet wird (Kapitel 5). Der Beitrag schließt mit einer Einordnung der Ergebnisse sowie einem Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf.


2  Stand der Forschung
2.1  Wohnbauflächenentwicklung im Planungssystem

Dem Gegenstromprinzip folgend werden in der Planungspraxis auf den verschiedenen Planungsebenen Vorgaben gemacht, aus denen hervorgeht, welche Gemeinden auf die Eigenentwicklung beschränkt sind und welche darüber hinaus für die Aufnahme von Zusatzbedarfen bestimmt sind. In der Regel handelt es sich hierbei – dem in § 2 Abs. 2 Nr. 2 ROG3 festgehaltenen Grundsatz der Raumordnung folgend – um sogenannte Gemeinden mit verstärkter Siedlungsentwicklung, das heißt typischerweise um Orte mittlerer oder höherer Zentralität. Diese Vorgaben werden von den im Regionalplan ausgewiesenen Gemeinden im Rahmen der kommunalen Planungshoheit in der Bauleitplanung umgesetzt, wobei gemäß § 4 BauGB4 Träger öffentlicher Belange (z. B. der Regionale Planungsverband und andere Gemeinden der Region) an der Planung zu beteiligen sind. Die entsprechenden Bauleitpläne beinhalten eine Begründung der Bedarfe.

In der Praxis zeigt sich, dass die Steuerung der Wohnbauflächenbedarfe sehr differenziert ausfällt, was auch daran liegt, dass Eigenentwicklung und Zusatzbedarfe in den Regionalplänen unterschiedlich definiert sind. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Pläne hinsichtlich ihrer Aktualität stark unterscheiden (Zaspel-Heisters/Benz 2020: 11) und sich Bedarfe, sofern diese definiert wurden, seit der Planerstellung teils anders entwickelt haben. Nur wenige Länder sehen vor, dass die Pläne nach Ablauf einer Frist überprüft werden (z. B. Thüringen: sieben Jahre) bzw. ungültig werden (z. B. Niedersachsen: zehn Jahre). Eine Zusammenschau von 55 in Deutschland gültigen Regionalplänen zeigt ferner, dass die Regionalplanungen den Fokus der auf Zusatzbedarfen beruhenden Siedlungsentwicklung in der Regel auf Kommunen mit zentralörtlicher Funktion legen: Konkret sehen 41 von 55 Regionalplänen vor, dass sich die zusatzbedarfsorientierte Entwicklung maßgeblich auf Zentrale Orte fokussieren soll. Die Aufnahme von Wanderungsgewinnen außerhalb Zentraler Orte wird allerdings nur in Berlin-Brandenburg, im Saarland und in Sachsen explizit ausgeschlossen (Briegel 2020: 39). Weiterhin finden sich in 24 Regionalplänen Festlegungen, nach denen die Konzentration der Siedlungsentwicklung auf geeignete und als solche auch explizit ausgewiesene Vorranggebiete erstrecken soll. Zehn der untersuchten Regionalpläne gehen auf Fragen der Mengensteuerung (Angaben zu Obergrenzen der Wohnbauflächenentwicklung, meist in Wohneinheiten oder Fläche) ein (vgl. Tabelle 1) und bieten somit Anhaltspunkte für vertiefende Überlegungen hinsichtlich einer regional abgestimmten Fokussierung von Wohnbauflächenbedarfen. Allerdings verbleibt der Großteil bei der Nennung pauschaler Angaben, die beispielsweise auf prozentualen Wachstumsraten (z. B. x Wohneinheiten je 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern (EW) pro Jahr) oder maximalen Flächenangaben (Ausweisung einer maximalen Fläche der Siedlungsentwicklung über einen festgelegten Zeitraum) beruhen. Wanderungen werden lediglich in sechs Regionalplänen explizit thematisiert – auf sehr unterschiedliche Weise: Der Regionalplan Schwarzwald-Baar-Heuberg beispielsweise sieht die Aufnahme von Wanderungsgewinnen in allen Gemeinden des Plangebiets vor, während die übrigen fünf der sechs Regionalpläne Wanderungen ausdrücklich in die Zentralen Orte und Vorranggebiete, z. B. für Siedlungsentwicklung oder Siedlungserweiterung, zu lenken suchen. Lediglich drei der sechs Regionalpläne, die zwischen eigenentwicklungs- und zusatzbedarfsbedingten Wohnbauflächenbedarfen unterscheiden, enthalten Vorschläge, wie diese Differenzierung im Zusammenhang mit einer Mengensteuerung konkret zu berücksichtigen ist.
Tabelle 1 Ansätze zur Ermittlung von Wohnbauflächenbedarfen in ausgewählten Regionalplänen

Planungsregion

Aussagen zu Siedlungsentwicklung/Wanderungen

Südhessen

Keine Trennung von Eigenentwicklung und Wanderungsgewinnen bei der Bedarfsdarstellung; gemeindekonkrete Obergrenzen der Siedlungsentwicklung; genaue Herleitung bleibt unklar; Obergrenzen für Zeitraum von 18 Jahren (in Summe 4.738 ha)

Mittelhessen

Keine Trennung von Eigenentwicklung und Wanderungsgewinnen bei der Bedarfsdarstellung; Wohnungsbedarf (Wohneinheiten) ÷ Dichtewert (Wohneinheiten/ha) = maximaler Wohnsiedlungsflächenbedarf. (Der Wohnsiedlungsflächenbedarf wird als absolute Zahl in Hektar formuliert. Der Wohnungsbedarf, der in die Rechnung einfließt, ergibt sich aus einer Wohnungsbedarfsprognose.)

Nordhessen

Keine Trennung von Eigenentwicklung und Wanderungsgewinnen bei der Bedarfsdarstellung; gemeindekonkrete Obergrenzen auf der Grundlage einer Wohnungsbedarfsprognose; Werte können um 30 % überschritten werden; Obergrenzen für Zeitraum von 18 Jahren (in Summe 1.950 ha)

Rhein-Neckar

Keine Trennung von Eigenentwicklung und Wanderungsgewinnen bei der Bedarfsdarstellung; gemeindekonkrete Obergrenzen auf der Grundlage einer Bevölkerungsprognose und Annahmen zum Ersatzbedarf; genaue Ermittlung der Bedarfe bleibt unklar; Obergrenzen für Zeitraum von 13 Jahren (in Summe 1.864 ha)

Südlicher Oberrhein

Keine Trennung von Eigenentwicklung und Wanderungsgewinnen bei der Bedarfsdarstellung; als Orientierungswert ein Zuwachsfaktor (einschließlich der Eigenentwicklung) in Höhe von bis zu 0,45 % pro Jahr bezogen auf die Bevölkerungszahl

Stuttgart

Prognostizierter Bedarf ergibt sich zu rund 70 % aus der Eigenentwicklung und 30 % aus dem Zusatzbedarf; aufgrund von Prognosen wird ein gesamter Bedarf für die Planungsregion formuliert; Lokalisationsvorschläge oder Flächenangaben erfolgen nicht; Zeitraum 16 Jahre (erwarteter Zuwachs von 145.000 Wohneinheiten insgesamt)

Nordschwarzwald

Keine Trennung von Eigenentwicklung und Wanderungsgewinnen bei der Bedarfsdarstellung; Bevölkerungsprognose dient auf regionaler Ebene als Orientierungswert; auf kommunaler Ebene werden keine Bedarfe ausgewiesen

Westpfalz

Unterscheidung zwischen Eigenentwicklung und Zusatzbedarf durch unterschiedliche Wachstumsraten; bei Gemeinden mit der Funktion „Wohnen“ wird ein Wert von 3,2 Wohneinheiten pro Jahr und 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern (EW) als ausreichend festgelegt; bei Gemeinden mit Eigenentwicklung bestimmt sich der Wert definitionsgemäß niedriger und wird – normativ setzend – mit 2,0 Wohneinheiten/1.000 EW/Jahr festgelegt

Westerwald

Unterscheidung zwischen Eigenentwicklung und Zusatzbedarf durch unterschiedliche Wachstumsraten; als Kenngrößen für den Bedarfsausgangswert werden folgende Werte in Wohneinheiten pro 1.000 EW und Jahr festgelegt:

– 
für Orte mit Eigenentwicklung ein Bedarfsausgangswert von 2,0 Wohneinheiten/1.000 EW/Jahr
– 
für grundzentrale Orte ein Bedarfsausgangswert von 2,5 Wohneinheiten/1.000 EW/Jahr
– 
für mittelzentrale Orte ein Bedarfsausgangswert von 3,0 Wohneinheiten/1.000 EW/Jahr
– 
für das Oberzentrum Koblenz ein Bedarfsausgangswert von 4,3 Wohneinheiten/1.000 EW/Jahr

Arnsberg

Keine Trennung von Eigenentwicklung und Wanderungsgewinnen bei der Bedarfsdarstellung; auf der Grundlage natürlicher Bevölkerungsentwicklung und Wanderungen wird ein Bedarf geschätzt und gemeindekonkret verteilt; Obergrenzen für Zeitraum von 18 Jahren (in Summe 847 ha)

2.2  Herausforderungen im Zusammenhang mit der Ermittlung von Zusatzbedarfen

So plausibel die Unterscheidung in Eigen- und Zusatzbedarfe auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so problematisch erweist sie sich in der Praxis der Regionalentwicklung – sowohl aus methodischen als auch in der konkreten Umsetzung liegenden Gründen.

Hinsichtlich methodischer Unzulänglichkeiten ist hervorzuheben, dass sich die Ermittlung von Zusatzbedarfen zumeist auf Prognosen stützt, die per se mit Unsicherheiten verbunden sind. Zudem sind diese vielfach nicht oder nur bedingt imstande, die zunehmend komplexeren, kleinräumig vielfach polarisierenden Bevölkerungsentwicklungen (Wolff/Haase/Leibert 2020: 4) adäquat abzubilden. Dies liegt vor allem daran, dass sie aufgrund ihrer Langfristperspektive die sich mitunter sehr kurzfristig verändernden Wanderungstrends nicht abbilden können. Ferner beruhen Bevölkerungsprognosen vielfach auf einer bloßen Fortschreibung bestehender Bevölkerungsentwicklungen, die – da sie unter Umständen nicht im Einklang mit regionalen Planungszielen stehen – entsprechende Gegenreaktionen vonseiten der Planung hervorrufen und sich infolgedessen nie realisieren würden. In der Summe wirft die Dynamik des Wanderungsgeschehens unweigerlich die grundsätzliche Frage auf, inwieweit sich Wanderungen unter Einsatz von Prognosen im Rahmen von Regionalplänen überhaupt adäquat steuern lassen bzw. ob nicht ein flankierendes Verfahren zum Einsatz kommen sollte, das geeignet ist, die dynamischen Prozesse besser abzubilden und eine stärker interkommunale Abstimmung in der jeweiligen Region anzuregen.

Weiterhin leidet die bisherige Praxis darunter, dass sich infolge eines Mangels konkreter Allokationsvorschläge Interpretationsspielräume ergeben, die Gemeinden vielfach zu ihren Gunsten auslegen: Mit dem Ziel, möglichst stark am regionalen Zuwanderungsgeschehen zu profitieren, nehmen sie vielfach selbst Flächenausweisungen in einem Umfang vor, der das tatsächliche Ausmaß der Eigenbedarfsentwicklung regelmäßig übersteigt und somit von den Vorgaben der Regionalpläne abweicht und den Vorgaben des Raumordnungsgesetzes zuwiderläuft. Dies ist möglich, da die Flächenbereitstellung im Rahmen der kommunalen Planungshoheit erfolgt, ohne dass eine regionale Abstimmung zu den tatsächlichen regionalen Bedarfen vollzogen werden muss (Hoymann/Goetzke 2018: 678). Derartige Abweichungen vom Plan liegen unter anderem folgende Ursachen zugrunde:
– 
Kompensation demographischer Schrumpfung: Gerade peripher gelegene, von einer negativen natürlichen Bevölkerungsentwicklung gekennzeichnete Gemeinden weisen oftmals neue Flächen aus, um mithilfe erhoffter Wanderungsgewinne den eigenen Schrumpfungsprozess abmildern zu können oder bestenfalls einen positiven Gesamtsaldo zu generieren (Adrian/Bock/Bunzel et al. 2018: 40).
– 
Priorisierung kommunaler Sonderziele: Siedlungsstrukturelle oder ortsbezogene Zielsetzungen erhalten, bedingt durch die komplexen Akteurstrukturen bei stadtpolitischen Entscheidungen (Ritzinger 2018: 451), Vorrang vor dem Thema „Flächensparen“.
– 
Erhoffte kommunale Zusatzeinnahmen: Schrumpfende Einnahmen und teilweise hohe Schuldenstände der Gemeinde führen vielfach dazu, dass diese mehr Steuern durch neue Einwohnerinnen und Einwohner oder Flächenverkäufe zu generieren suchen (Malburg-Graf 2018: 98).

Auch weil weder Verteilungs- oder Abstimmungsgrundlagen der regionalen Bedarfe noch geeignete Sanktionsmechanismen existieren, verfügen die Regionalen Planungsverbände in praxi kaum über Möglichkeiten, derartige vom Regionalplan abweichende Vorhaben zu verhindern. Da die mit kommunalen Eigeninteressen in Verbindung stehenden dezentralen Flächenausweisungen vielfach räumlich ungeordnete Überhänge von Wohnbauflächen zur Folge haben, kann nicht weiter verwundern, dass aktuell rund 70 % der Flächenneuinanspruchnahmen außerhalb von verdichteten Regionen, davon wiederum 70 % in Gemeinden ohne zentralörtliche Funktion, erfolgen (Adrian/Bock/Bunzel et al. 2018: 37). Weiterhin ist auch die Fokussierung von Zusatzbedarfen auf Zentrale Orte in der Praxis problematisch, da schon der Begriff des Zentralen Ortes ein breites Spektrum an Gemeinden samt Gemeindeteilen einschließt und das Zentrale-Orte-System raumstrukturelle Aspekte (z. B. transkommunale Zusammenschlüsse) vielfach außer Acht lässt (Terfrüchte/Flex 2018: 2977). So ermöglicht die Zuweisung der zentralörtlichen Funktion den betreffenden Gemeinden, auch solche Gemeindeteile zu entwickeln, die aufgrund ihrer Ausstattung nicht dazu geeignet sind, Wanderungen aufzunehmen (Abweichung vom Kernortprinzip). Die bloße Empfehlung, Wanderungen auf die Zentralen Orte der jeweiligen Planungsregion zu fokussieren, scheint somit nicht geeignet, eine nachhaltige Steuerung von Wohnbauflächenbedarfen sicherzustellen.

2.3  Zwischenfazit

Die geforderte Mengensteuerung der Siedlungsentwicklung wird nur in wenigen Planwerken behandelt; diesbezügliche Regelungen basieren zudem auf sehr unterschiedlichen Ansätzen. In der Praxis zeigt sich, dass Kommunen aus unterschiedlichen Gründen von existierenden Ansätzen zur Steuerung der Zusatzbedarfe abweichen und die eigentlich vorgesehene Fokussierung auf Gemeinden mit verstärkter Siedlungsentwicklung kaum stattfindet. Dies lässt die Frage aufkommen, ob es einer stärkeren Regulierung bedarf, die nicht nur geeignete Gemeinden identifiziert und zu entwickeln sucht, sondern auch konkrete Bedarfe formuliert, um den einzelnen Gemeinden feste Entwicklungsperspektiven zu eröffnen. Auch der Fokus der Realisierung von Zusatzbedarfen in Zentralen Orten kann langfristig als nicht zielführend angesehen werden, wenn es darum geht, Wanderungen einer Region sinnvoll zu steuern. Vielmehr ist zu überlegen, wie Wanderungen stärker auf alle geeigneten Gemeinden gelenkt werden können, um den Grundsätzen der Raumplanung (z. B. Fokussierung der Wanderungen auf Kommunen mit ausreichender Infrastruktur) besser gerecht zu werden.

Die genannten Defizite der bisherigen Praxis der regionalen Wohnbauflächensteuerung verdeutlichen, dass die Notwendigkeit besteht, neue Wege zu beschreiten. Ein diesbezüglicher Ansatz sollte die zentralen Bedingungen für ein nachhaltiges Flächenmanagement erfüllen (Hoymann/Goetzke 2018: 679) und kommunikative sowie kooperative Elemente mit aktiver Steuerung kombinieren. Weiterhin sollte er den Grundsätzen der Raumordnung, allen voran den Grundsätzen 1‑4 und 6 nach § 2 Abs. 2 ROG (Sicherung der Daseinsvorsorge, Fokussierung der Siedlungstätigkeit, Sicherung der Erreichbarkeiten durch den öffentlichen Personennahverkehr, nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und die Verringerung der Flächeninanspruchnahme) in geeigneter Weise Rechnung tragen.


3  Nachhaltige Steuerung positiver Wanderungstrends

Mit dem Ziel, den identifizierten Defiziten zu begegnen und einen Beitrag zum nachhaltigen Flächenmanagement zu leisten, schlagen wir einen dreistufigen Ansatz vor. Dieser stellt in einem ersten Schritt darauf ab, die aus zu erwartenden kleinräumigen Wanderungen ableitbaren Wohnbauflächenbedarfe in Form von unterschiedlichen Szenarien darzustellen (Kapitel 3.1). In einem zweiten Schritt gilt es, mittels eines Prüforteansatzes solche Kommunen zu identifizieren, die aufgrund ihrer Ausstattungs- und Erreichbarkeitsmerkmale in besonderer Weise geeignet scheinen, zusätzliche Wohnbauflächenbedarfe aufnehmen zu können (Kapitel 3.2). In einem dritten Schritt werden die ermittelten Wohnbauflächenbedarfe mithilfe verschiedener Indikatoren den identifizierten Prüforten zugeordnet (Kapitel 3.3).

3.1  Szenarien der Bevölkerungsentwicklung

Ziel des ersten Schrittes ist es, das Zuwanderungspotenzial in die betreffende Planungsregion zu ermitteln – vorzugsweise mithilfe einer szenarienbasierten Herangehensweise. Als Ergebnis sollen demographische Kenngrößen der Bevölkerung gewonnen werden, die der weiteren Bedarfsabschätzung als Berechnungsgrundlagen dienen.

Zur Abschätzung des Wanderungspotenzials können unter anderem regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnungen dienen, die von den statistischen Landesämtern auf Kreisebene, teilweise auch auf Gemeindeebene bereitgestellt werden. Bestenfalls kann auch auf einen Demographiemonitor auf Ortsteilebene zurückgegriffen werden. Da Bevölkerungsvorausberechnungen stets mit Unsicherheiten verbunden sind, scheint es grundsätzlich zielführend, zwischen unterschiedlichen Szenarien zu differenzieren. Sofern die Verhältnisse vor Ort es zulassen, empfiehlt es sich, regionale Akteure in einen moderierten Austausch (z. B. Planungsverbände, Wohnungsunternehmen, Kommunen) über diese Entwicklungsszenarien einzubeziehen. Das Ziel eines solchen Austausches sollte es sein, die auf Grundlage der prognostizierten Wanderungen zu erwartenden Wohnbauflächenbedarfe für die Region über einen festgelegten Zeithorizont gemeinsam abzuleiten. Weiterhin kann er dazu beitragen, regionale Kooperationen bzw. Stadt-Land-Partnerschaften zu stärken, wie es in § 2 Abs. 2 Nr. 2 ROG gefordert wird. Als Beispiele für Regionen, die gemäß § 204 BauGB eine gemeinsame Flächennutzungsplanung verfolgen, können die Städteregion Ruhr sowie der Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main genannt werden. Weiterhin wird empfohlen, die Bedarfsgrößen regelmäßig zu evaluieren, um mögliche Abweichungen (Veränderung der Wanderungstrends) frühzeitig erkennen und gegebenenfalls entsprechende Anpassungen vornehmen zu können.

3.2  Prüforteansatz und Raumtypenabgrenzung zur Steuerung der Wanderungen

Der zweite Schritt hat zum Ziel, raumstrukturelle Besonderheiten zu identifizieren, die im Rahmen der Wohnbauflächenplanung zu berücksichtigen sind. Zu diesem Zweck werden mit einem Prüforteansatz solche Gemeindeteile (Siedlungs- und Versorgungskerne) ermittelt, die für die Aufnahme von Zusatzbedarfen in Frage kommen. Weiterhin wird ein Vorschlag zur Abgrenzung regionaler Raumtypen unterbreitet, um raumstrukturelle Unterschiede berücksichtigen zu können. Am Ende steht die Einteilung von Prüforten und Raumtypen, die die Berücksichtigung der raumstrukturellen Besonderheiten im Zusammenhang mit der Steuerung der Wohnbauflächenbedarfe gewährleistet.

3.2.1  Prüforteansatz

Mit der Implementierung eines Prüforteansatzes greift das Modell den Grundsatz aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 ROG auf, demzufolge „die Siedlungstätigkeit […] räumlich zu konzentrieren, […] [und] vorrangig auf vorhandene Siedlungen mit ausreichender Infrastruktur und auf Zentrale Orte auszurichten“ ist. Konkret berücksichtigt der Ansatz dazu nicht nur zentralörtliche Funktionen, sondern bewertet darüber hinaus alle Versorgungs- und Siedlungskerne der Region mittels eines einheitlichen additiven Indexes, der die Prüfkriterien Bevölkerung, Erreichbarkeit und Ausstattungsmerkmale über verschiedene Indikatoren abbildet (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 ROG). Dazu werden für alle berücksichtigten Indikatoren Schwellenwerte (z. B. die vorhandenen Bildungseinrichtungen gestaffelt nach deren Anzahl) formuliert (vgl. Latcheva/Davidov 2014: 745), für deren konkrete Ausprägung spezifische Punktewerte erzielt werden können. Anschließend werden die Punkte der einzelnen Indikatoren, je nach erreichtem Schwellenwert, für jede Kommune aufsummiert. Grundsätzlich sind die verwendeten Schwellenwerte zur Bewertung der Indikatoren individuell an die raumstrukturellen Bedingungen der jeweiligen Region anzupassen. Damit der Ansatz einheitliche Ergebnisse produziert und keine Anfälligkeit für Beeinflussungen aufweist, bedarf es zu Beginn einer klaren Gewichtung der Indikatoren, die von den Akteuren mitgetragen wird. Als wesentliche Prüfkriterien sind dabei die Erreichbarkeit und die Ausstattungsmerkmale möglichst gleichberechtigt zu gewichten. Die Prüfkriterien Bevölkerung und zentralörtliche Funktion sind den beiden anderen Kriterien in ihrer Gewichtung unterzuordnen. In Kapitel 4.3 wird am Beispiel der Region Halle-Leipzig demonstriert, wie dieser Index konkret ausgestaltet werden kann.

Prüfkriterium Bevölkerung  
Zur Bewertung des Prüfkriteriums Bevölkerung schlagen wir vor, die Bevölkerungszahlen im Versorgungs- und Siedlungskern, gestaffelt nach Größe, als geeigneten Indikator heranzuziehen. Um dies im additiven Index zu berücksichtigen, sollte sich die Staffelung an der Größe der Gemeinden in der betreffenden Region orientieren; sie ist somit für jede Region individuell zu bemessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Tragfähigkeit von sozialen und technischen Infrastrukturen gewährleistet ist (vgl. Kapitel 4.3.1). Im Anschluss wird jedem Schwellenwert ein spezifischer Punktwert zugewiesen. Weiterhin empfehlen wir, eine gewisse Mindesteinwohnerzahl anzunehmen, da eine Gemeinde langfristig den Erhalt der nötigen Infrastrukturen gewährleisten muss, um als Prüfort überhaupt in Frage zu kommen. Diesbezügliche Angaben variieren in der Literatur: Während der ADAC (2020: 57) in einer Studie 500 EW als Untergrenze für die Gewährleistung einer ÖPNV-Anbindung annimmt, sehen Ehrhardt, Boß, Miosga et al. (2020: 218) 2.000 EW als Minimalwert für die Ausstattung mit sozialen Infrastrukturen an.
Prüfkriterium Erreichbarkeit  
Dieses Prüfkriterium dient der Bewertung der Erreichbarkeit des nächstgelegenen Oberzentrums mit dem motorisierten Individualverkehr und dem öffentlichen Personennahverkehr, wobei bei Letzterem neben der Fahrzeit auch die Taktung zu betrachten ist. Als Untergrenze für einen zukunftsfähigen Mobilitätsstandard sind im Falle des öffentlichen Personennahverkehrs 60 Minuten Fahrtdauer bzw. eine Fahrt pro Stunde anzusehen (ADAC 2020: 57). Im Falle des motorisierten Individualverkehrs sind indes maximal 45 Minuten Fahrtdauer anzusetzen, da bei Selbstfahrerinnen und -fahrern ab dieser Fahrzeit negative Begleiterscheinungen (z. B. Gefahr von Blutstauungen und Thrombosen, visuelle Probleme, Kopfschmerzen, Lärmbelastung) erheblich zunehmen (Hupfeld/Brodersen/Herdegen 2013: 26). Was die konkrete Bewertung anbelangt, wird vorgeschlagen, je Verkehrsmittel die Erreichbarkeit (in Minuten) unter Berücksichtigung der vorgeschlagenen Untergrenzen in Klassen aufzuteilen und diese Klassen für die Indexbewertung mit unterschiedlichen Punktewerten zu berücksichtigen. Weiterhin sollte auch die Taktung des öffentlichen Personennahverkehrs als Indikator dienen. Schwellenwerte lassen sich hier beispielsweise auf der Grundlage der durchschnittlichen Fahrtenhäufigkeit bilden. Aufgrund der wachsenden Bedeutung des Schienenpersonennahverkehrs empfehlen wir abschließend, das Vorhandensein eines entsprechenden Anschlusses als weiteren Indikator bei der Indexkonstruktion zu berücksichtigen. Dabei gilt es, auch das Vorhandensein regionaler ÖPNV-Angebote zu beachten, wie beispielsweise den sogenannten Plus-Bus in Mitteldeutschland, welcher über eine ähnliche Taktung wie der Schienenverkehr verfügt (Schlump 2018: 23).
Prüfkriterium Ausstattungsmerkmale  
Das Prüfkriterium Ausstattungsmerkmale dient vor allem der Erfassung solcher weichen Standortfaktoren, die sich auf das Wanderungsverhalten auswirken. Dazu werden in Anlehnung an Döring (2018: 2588) die vorhandene Bildungsinfrastruktur, die Nahversorgung sowie die medizinische Versorgung als zu berücksichtigende Aspekte vorgeschlagen. Grundsätzlich sollte nicht nur das bloße Vorhandensein entsprechender Einrichtungen in der Bewertung reflektiert werden; vielmehr sollte auch der jeweiligen Versorgungsqualität in geeigneter Weise Rechnung getragen werden. Analog zu den anderen Teilindikatoren schlagen wir vor, für jeden Teilindikator verschiedene Klassen auszuweisen, um unterschiedliche Ausstattungsqualitäten angemessen berücksichtigen zu können. Der Teilindikator Bildungsinfrastruktur kann in diesem Zusammenhang auch die Ausstattung mit unterschiedlichen Schulformen bzw. Kindertageseinrichtungen erfassen, der Teilindikator Nahversorgung etwa die vorhandene Verkaufsfläche und der Teilindikator medizinische Versorgung das Vorhandensein verschiedener medizinischer Fachrichtungen (z. B. Hausärztinnen/Hausärzte; Zahnärztinnen/Zahnärzte) und gegebenenfalls auch Apotheken und Pflegeeinrichtungen.
Nach Aufsummieren der Werte der Prüfkriterien gilt es, abschließend Klassen an Prüforten einzuteilen. Konkret schlagen wir in diesem Zusammenhang folgende Klassenbildung vor:
– 
Prüforte der Stufe 1: Diese Orte sind aufgrund ihrer Erreichbarkeit und Ausstattung für die Wahrnehmung von Entwicklungsfunktionen im Bereich Wohnen in der Region in besonderer Weise geeignet.
– 
Prüforte der Stufe 2: Diesen Orten kommt im Falle starker Wanderungsgewinne eine ergänzende Entwicklungsfunktion für die Prüforte erster Stufe zu.
– 
Prüforte der Stufe 3: Hierbei handelt es sich um solche Kernorte, die sich hinsichtlich der Mehrzahl ihrer Ortsteile durch eine bessere Ausstattung und/oder Erreichbarkeit auszeichnen und damit eine Stabilisierungs‑/Ergänzungsfunktion in ländlichen Räumen wahrnehmen können.
– 
Eigenentwicklungskommunen: Diesen Orten kommt keine Bedeutung bei der Aufnahme von Wanderungen zu, weshalb sie auf die Eigenentwicklung zu beschränken sind.

In der Summe ermöglicht der vorgestellte Index über die Einteilung in Prüfortstufen insoweit eine Ergänzung des Zentrale-Orte-Systems, als er die in Kapitel 2.2 angesprochenen Defizite des Systems adressiert. Auf diese Weise wird eine vom Zentrale-Orte-System losgelöste Steuerung ermöglicht, um besonders in Wachstumsregionen solche Gemeinden zu identifizieren, die im Hinblick auf die Wohnraumversorgung besonders geeignet erscheinen. Weiterhin wird über den Fokus auf Siedlungs- und Versorgungskerne einer dispersen Flächennutzung vorgebeugt. Im Ergebnis können die Prüforte in den jeweiligen Regionalplänen als Zielräume für eine verstärkte Siedlungsentwicklung durch Wanderungen festgesetzt werden. Die Relevanz des Zentrale-Orte-Systems in Bezug auf die Gewährleistung der Daseinsvorsorge bleibt von diesen Überlegungen unberührt.

3.2.2  Abgrenzung von Raumtypen

Um der Heterogenität der Teilräume (§ 2 Abs. 2. Nr. 1 ROG) Rechnung zu tragen, wird – sofern nicht bereits durch die Regionalplanung erfolgt5 – vorgeschlagen, eine raumstrukturelle Abgrenzung der Gemeinden vorzunehmen. Konkret gilt es, diese in Abhängigkeit von ihrer geographischen Lage zum Oberzentrum, ihrer zentralörtlichen Funktion, dem Nahwanderungsgewinn aus dem Oberzentrum, der mit dem Oberzentrum bestehenden Pendlerverflechtungen und der kommunalen Arbeitsplatzdichte in möglichst homogenen Raumtypen (z. B. hinsichtlich Baudichten oder Einfamilienhausquoten) zusammenzufassen. Denkbar ist beispielsweise eine Unterscheidung in die vier Raumtypen Oberzentren, Verflechtungsraum, Mittelzentraler Ring und Weiteres Umland (Interko2 2022: 29). Die Einteilung derartiger Raumtypen erfolgt dabei unabhängig von den zuvor ermittelten Prüforten. Mit anderen Worten kann jeder Raumtyp auch Prüforte jeder der oben genannten Stufen enthalten. Auf dieser Grundlage wird es möglich, die zu erwartende Zuwanderung und deren Auswirkungen unter Berücksichtigung der jeweils vorherrschenden raumstrukturellen Gegebenheiten (z. B. Haushaltsgröße, Anzahl von Ein‑, Zwei- und Mehrfamilienhäusern, Flächenbedarf) berechnen zu können.

3.3  Steuerung der regionalen Wanderungsgewinne

Ziel des dritten Schritts ist es, die in Kapitel 3.1 ermittelten Anteile der zu erwartenden Zuwanderung unter Berücksichtigung der im vorangehenden Kapitel beschriebenen Raumtypen zuzuordnen und mithilfe von geeigneten Indikatoren in einen Wohneinheitenbedarf für die Segmente der Ein‑/Zweifamilienhäuser sowie Mehrfamilienhäuser zu übersetzen. Abschließend wird der Flächenbedarf für die Umsetzung des ermittelten Wohneinheitenbedarfs ermittelt und den kommunalen Potenzialflächen gegenübergestellt. Im Ergebnis kann so der genaue Zusatzbedarf je Prüfort beziffert werden.

3.3.1  Rechnerischer Anteil der Prüforte an den Wanderungsgewinnen

Zunächst wird der rechnerische Anteil der jeweiligen Prüforte an der erwarteten Zuwanderung im betreffenden Raumtyp bestimmt. Die Grundlage der Berechnung bilden die zu erwartenden Wanderungsgewinne je Raumtyp. Mit dem Raumtyp Verflechtungsraum (angrenzend an das jeweilige Oberzentrum) beginnend, werden die zu erwartenden Einwohnerzahlen (je Szenario) für die Gemeinden der Prüforte der Stufe 1 berechnet, wobei sich deren genaue Höhe an der aktuellen Bevölkerungsverteilung orientiert. Mit anderen Worten würden einem Ort, der über 50 % der EW an allen Prüforten der Stufe 1 verfügt, auch 50 % der erwarteten Wanderungsgewinne zugeordnet werden. Analog wird im Falle der anderen Raumtypen und den dort lokalisierten Prüforten der Stufe 1 vorgegangen, sodass sich auf diese Weise die pro Raumtyp erwartete Zuwanderung ermitteln lässt.

3.3.2  Korrektur aufgrund wirtschaftlich endogener Potenziale

Nachdem der Wanderungsgewinn je Prüfort rechnerisch ermittelt wurde, erfolgt – mit dem Ziel, regionale wirtschaftliche Wachstumspotenziale zu stärken und damit dem Grundsatz § 2 Abs. 2. Nr. 4 ROG gerecht zu werden – eine Korrektur unter Berücksichtigung der wirtschaftlich endogenen Potenziale der Prüforte (vgl. Tabelle 2). Dazu werden für jeden der vier Indikatoren (a) Zahl der Arbeitsplätze je 1.000 EW, (b) Zahl der Einpendlerinnen und Einpendler je 1.000 EW, (c) Entwicklung der Zahl der Arbeitsplätze (je 1.000 EW über den Zeitraum von fünf Jahren) und (d) Breitbandversorgung (Anteil der Haushalte mit mindestens 100 Mbit/s) Quartile für die gesamte Planungsregion gebildet. Mit dem Ziel, für Prüforte mit hoher Arbeitsmarktbedeutung und guter Breitbandversorgung einen höheren Zusatzbedarf (Zuzug) auszuweisen, erhalten Prüforte je Ausprägung des Indikators, der in das zweite bzw. dritte Quartil der Verteilung eines Indikators fällt, einen Zuschlag (z. B. in Höhe von 0,1 bzw. 0,2) auf den zuvor ermittelten Anteil der Einwohnerinnen und Einwohner im Siedlungskern.
Tabelle 2 Indikatoren zur Korrektur aufgrund wirtschaftlich endogener Potenziale

Indikator

Berechnung/Benchmark

Quelle

Arbeitsplätze je 1.000 EW

Benchmark über Quartilsbildung

Statistisches Landesamt, Bundesagentur für Arbeit, eigene Berechnung

Einpendlerinnen/Einpendler je 1.000 EW

Statistisches Landesamt, Bundesagentur für Arbeit, eigene Berechnung

Arbeitsplatzentwicklung der letzten fünf Jahre

Statistisches Landesamt, Bundesagentur für Arbeit, eigene Berechnung

Breitbandversorgung (Anteil der Haushalte mit mindestens 100 Mbit/s)

Breitbandatlas, eigene Berechnung

3.4  Ermittlung der benötigten Wohneinheiten je Haustyp
Nachdem die potenziell zu erwartenden Wanderungsgewinne berechnet wurden, erfolgt deren Aufteilung in Wohneinheiten nach den Segmenten Ein‑/Zweifamilienhäuser und Mehrfamilienhäuser. Die Grundlage der Aufteilung bilden Annahmen zu Wohnformen bzw. Eigenheimquoten (vgl. Tabelle 3).
Tabelle 3 Annahmen zur Ermittlung der benötigten Wohneinheiten

Kenngröße

Berechnung/Ermittlung

Quelle

Einwohnerinnen und Einwohner im Kernort der Prüforte

Absolute Zahl

Statistisches Landesamt

Rechnerische Haushaltsgröße

Einwohnerinnen/EinwohnerAnzahl der Haushalte

Statistisches Landesamt, eigene Berechnung

Verteilung Ein‑/Zweifamilienhäuser und Mehrfamilienhäuser (aktuelle Baufertigstellungen)

Anzahl Wohneinheiten in Ein-/Zweifamilienhäuser und MehrfamilienhäuserSumme der Wohneinheiten

Statistisches Landesamt

Für die Aufteilung der Wohnbauflächenbedarfe in Ein‑/Zweifamilienhäuser und Mehrfamilienhäuser werden Angaben über die prozentuale Verteilung beider Segmente benötigt. Hierzu bietet sich beispielsweise ein Rückgriff auf Daten der Baufertigstellungen der letzten fünf Jahre an. Alternativ kann auch die Struktur des Wohnungsbestandes betrachtet werden. Mithilfe der auf dieser Basis ermittelten prozentualen Verteilungen von Ein‑/Zweifamilienhäusern und Mehrfamilienhäusern werden dann die zu erwartenden Wanderungsgewinne je Prüfort in die beiden Segmente eingeteilt, sodass sich die zu erwartenden Einwohnerinnen und Einwohner im Ergebnis pro Haussegment darstellen lassen.

Die rechnerische Haushaltsgröße ergibt sich getrennt nach Segment durch Division der Zahl der aktuellen Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinde durch die Zahl ihrer Haushalte. Um die tatsächlich benötigten Wohneinheiten nach Segment (Ein‑/Zweifamilienhäuser und Mehrfamilienhäuser) bestimmen zu können, wird die zu erwartende Zahl der zuwandernden Einwohnerinnen und Einwohner je Haussegment durch die rechnerische Haushaltsgröße dividiert.

3.5  Flächenabgleich

Um kein übermäßiges Wohnbauflächenangebot zu schaffen und damit zu einer Verringerung der Flächen(neu)inanspruchnahme (§ 2 Abs. 2 Nr. 6 ROG) beizutragen, wird abschließend die Flächenverfügbarkeit in der Region betrachtet. Dabei gilt es, die benötigten Flächen um die bereits vorhandenen Wohnbauflächen zu korrigieren. Dabei sollten nur solche Flächen in die Betrachtung einbezogen werden, die für eine Wohnbebauung grundsätzlich geeignet erscheinen. Als Kriterien für die Identifikation potenzieller Wohnbauflächen sind der Raumwiderstand, der Bauwiderstand und die Erreichbarkeit verschiedener Infrastrukturen zu nennen. Als Ansätze zur Ermittlung eignen sich beispielsweise die Methodik der Regionalen Planungsgemeinschaft Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg (2019: 13) oder die des Forschungsprojektes StadtLandNavi (SLN 2021: 4).

Grundsätzlich wird vorgeschlagen, den Raumwiderstand auf der Basis raumplanerischer (z. B. Vorranggebiete für Landwirtschaft, Wald oder Rohstoffe) und naturschutzrechtlicher (z. B. Landschaftsschutzgebiete, FFH-Gebiete oder Natura-2000-Gebiete) Restriktionen zu erfassen. Bauwiderstände wiederum sind beispielsweise auf topographische und geologische Gegebenheiten zurückzuführen. Im Sinne einer kompakten Siedlungsstruktur und dem Anbindegebot sollte weiterhin eine Erreichbarkeit der Flächen mit dem öffentlichen Personennahverkehr gewährleistet sein. Zur Bewertung und Abwägung der Kriterien bietet das Projekt StadLandNavi eine geeignete Bewertungsmatrix (SLN 2021: 6).

Mittels des vorgeschlagenen Flächenabgleiches wird sichergestellt, dass die Gemeinden sich nur im Rahmen ihrer Flächenpotenziale entwickeln. Weiterhin gilt es, die natürliche Bevölkerungsentwicklung zu berücksichtigen; sollten doch im Zusammenhang mit dem Neubau bzw. der Neuausweisung von Wohnbauflächen im Falle einer negativen natürlichen Entwicklung (voraussichtlich) freiwerdende Wohnflächen in die Analyse mit einfließen.

Sollte der zu erwartende Wanderungsgewinn nach erfolgtem Flächenabgleich nicht vollständig den Prüforten der ersten Stufe im jeweiligen Raumtyp zugeordnet werden können, werden die Gemeinden zweiter und dann dritter Stufe nach dem gleichen Schema (im jeweiligen Raumtyp) berücksichtigt. Sofern die Potenziale im Verflechtungsraum erschöpft sind, bevor alle zu erwartenden Wanderungsgewinne zugeordnet wurden, erfolgt ein Übergang auf den nächsten Raumtyp (vgl. Abbildung 1). Auch können Bedarfe direkt auf den nächsten Raumtyp bzw. vom Oberzentrum übertragen werden, um beispielsweise kommunale „Wachstumsmüdigkeiten“, einer Veränderung in der Nachfrage (z. B. bei einem stärkeren Bodenpreisgefälle) oder dem Fehlen von Entwicklungsflächen zu begegnen. Das Ausmaß des direkten Übertrages ist im Rahmen des regionalen Austausches zu den Entwicklungsszenarien zu bestimmen (vgl. Kapitel 3.1).
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Abbildung 1 Verteilungsschema für den Zusatzbedarf

Mithilfe des vorgeschlagenen Ansatzes wird sichergestellt, dass nur tatsächlich zusätzlich benötigte Flächen in Anspruch genommen werden. Insgesamt wird auf diese Weise eine Steuerung der Wanderungsgewinne unter raumordnerischen Gesichtspunkten sichergestellt. Über eine regelmäßige Aktualisierung der Daten und Annahmen im Turnus von zwei bis drei Jahren können sich verändernde Wanderungstrends berücksichtigt werden. Weiterhin werden so bisher teils aufwendige Darstellungen von Kommunen für Einzelvorhaben vereinfacht, da sowohl die Gemeinden als auch die Regionalplanung auf eine gemeinsame Grundlage zurückgreifen können, um die Bedarfe, die aus der regionalen Zuwanderung erwachsen, nachzuvollziehen und gegebenenfalls gegenüber weiteren Trägern öffentlicher Belange zu rechtfertigen. Die abgestimmten Bedarfe bzw. die Vorgehensweise zur Ermittlung derselben sowie die Notwendigkeit regionalplanerischer Abstimmungsprozesse können im Ergebnis Eingang in die jeweiligen Regionalpläne, z. B. als Mengensteuerung samt entsprechender Zielformulierung, finden oder aber etwa im Rahmen einer gemeinsamen Flächennutzungsplanung nach § 204 BauGB Verbindlichkeit erhalten. Damit verbunden wäre der Vorteil, dass die Mengen, die das Modell am Ende formuliert, weniger in Zweifel gezogen werden, weil sie nicht „von oben“ oktroyiert werden, sondern konsensual festgelegt wurden. Auch ließen sich, da die Kommunen den Prozess gemeinsam gestalten, auf diese Weise zentrale Ziele einiger Regionalpläne, wie die Unterteilung von Gemeinden in Eigenentwicklungskommunen und Gemeinden mit verstärkter Siedlungsentwicklung, einfacher realisieren.


4  Anwendung des Ansatzes auf die Region Halle-Leipzig
4.1  Aktuelle Entwicklungen in der Region

Mit dem Ziel, den oben beschriebenen Ansatz an einem konkreten Beispiel zu illustrieren, werden die oben genannten Überlegungen im Folgenden auf die Region Halle-Leipzig angewandt. Diese setzt sich zusammen aus den beiden kreisfreien Oberzentren Halle (Saale) und Leipzig sowie den angrenzenden Landkreisen Leipzig, Nordsachsen und Saalekreis. Zuletzt war sie von einer dynamischen, räumlich ungleichen Bevölkerungsentwicklung geprägt: So verzeichnet Leipzig seit dem Jahr 2011 ein dynamisches Wachstum und zählt aktuell (2020) mit einem Wanderungssaldo pro 1.000 EW in Höhe von 7,78 (Wolff/Leibert/Haase et al. 2022) deutschlandweit zu den „klaren Wanderungsgewinnern“ (Wolff/Leibert/Haase et al. 2022). Die Stadt Halle (Saale) wies bis 2014 eine weitgehend stabile Bevölkerungszahl auf und hat seit 2014 ein leichtes Wachstum infolge von Wanderungsgewinnen erfahren.6 Mit einem Wanderungssaldo von 0,6 pro 1.000 EW wies Halle 2020 die geringste Zuwanderung in der Gesamtregion auf.7 Die angrenzenden Landkreise verzeichneten nach einer kurzen Phase der Suburbanisierung spätestens seit der Jahrtausendwende negative Wanderungssalden. Ähnlich wie Halle (Saale) sind sie seit 2014 durch Wanderungsgewinne gekennzeichnet.8 Bezogen auf die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner profitieren die Landkreise seitdem vom Wachstum und der starken Anziehungskraft Leipzigs.9 Für die Stadt Leipzig sowie die Landkreise Nordsachsen und Leipzig liegt eine vom Statistischen Landesamt Sachsen erstellte Bevölkerungsprognose vor (Basisjahr 2014; aktualisiert 2019; vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen 2016: 9). Diese unterscheidet zwei mögliche Varianten – starkes und moderates Wachstum der Bevölkerung. 2020 reichte der tatsächliche Bevölkerungsstand für die Stadt Leipzig ebenso wie für die Landkreise Leipzig und Nordsachsen näher an die das starke Wachstum prognostizierenden Variante heran – mit differenzierten Ergebnissen für die einzelnen Gemeinden. In Sachsen-Anhalt erreichte die Stadt Halle (Saale) nicht die prognostizierte Bevölkerungszahl für 2020, während der Saalekreis sie übertraf und somit weniger stark schrumpfte als erwartet.10

Unter Berücksichtigung der natürlichen Bevölkerungsentwicklung zeigt sich ein differenziertes Bild: Im Saalekreis übersteigt der Sterbeüberschuss den Wanderungssaldo zwischen den Jahren 2015 und 2020, jeweils bezogen auf 1.000 EW.11 Für die beiden Landkreise Leipzig und Nordsachsen ergibt sich ein leicht positiver Gesamtsaldo, der knapp den Sterbeüberschuss pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner zu kompensieren vermag.

Ein Blick in die einzelnen Gemeinden der Landkreise verdeutlicht jedoch, dass der positive Wanderungssaldo der gesamten Region nicht von allen Gemeinden gleichermaßen gespeist wird. Von den 80 Gemeinden in den Landkreisen Leipzig, Nordsachsen und im Saalekreis verzeichneten 31 im Jahr 2020 einen höheren Wanderungssaldo pro 1.000 EW als Leipzig (das heißt über 7,78).12 16 Gemeinden wiederum weisen einen negativen Wanderungssaldo aus. Zudem überwiegt auf kommunaler Ebene die negative natürliche Bevölkerungsentwicklung. In nur drei Gemeinden übersteigt die Zahl der Geburten die der Gestorbenen im Zeitraum zwischen 2015 und 2020.13 Insgesamt 52 – knapp zwei Drittel aller Gemeinden – verzeichneten somit zwischen 2015 und 2020 eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung. Künftig wird die Bevölkerungsentwicklung ceteris paribus wohl vor allem vom im bundesweiten Vergleich hohen Altersdurchschnitt beeinflusst werden, der einen Großteil der Gemeinden prägt.14

Die die Landkreise in den letzten Jahren kennzeichnende Bautätigkeit lässt darauf schließen, dass die Flächenneuinanspruchnahme und die Bevölkerungsentwicklung oftmals nicht korrelieren (Braunschweig/Dunkl/Leibert et al. 2020: 103). So lässt sich vor allem in peripheren Gemeinden ein Ausmaß der Bautätigkeit nachweisen, das sich nicht mit der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung erklären lässt. Punktuell zeigen sich jedoch auch Kommunen, die eine höhere Nachfrage an Wohnbauflächen erfahren, als auf den bislang ausgewiesenen Wohnbauflächen realisierbar ist. Diese kleinräumige Differenzierung von Wachstum und Schrumpfung in der Region Halle-Leipzig verstärkt dabei den zunehmenden interkommunalen Wettbewerb um Einwohnerinnen und Einwohner, was im ungünstigen Fall ein unkontrolliertes Flächenwachstum in der Gesamtregion zur Folge haben könnte.

4.2  Szenarienentwicklung

In Absprache mit den Gemeinden wurden auf der regionalen Ebene Entwicklungsszenarien festgelegt, welche für die erwartete Bevölkerungsentwicklung bis 2030 als realistisch erachtet wurden. Die Grundlage dieser Überlegungen bildeten die 7. Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung für den Freistaat Sachsen 2019 bis 2035 (Statistisches Landesamt des Freistaats Sachsen 2020) sowie die 7. Regionalisierte Bevölkerungsprognose Sachsen-Anhalt 2019-2035 (Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt 2021). Die amtlichen Prognosen für die Untersuchungsregion, welche das Jahr 2019 zur Basis haben, unterstellen der Region bis 2030 einen Wanderungsgewinn von rund 80.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, von denen etwa 65.000 auf die Stadt Leipzig entfallen (Statistisches Landesamt des Freistaats Sachsen 2020: 26; Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt 2021: 72). Unter Berücksichtigung dieser Prognosen wurden für jeden Raumtyp jeweils bis 2030 vier Szenarien der Bevölkerungsentwicklung erstellt.15

In anschließenden Szenarienworkshops in den Landkreisen Leipzig, Nordsachsen und im Saalekreis wurden aktuelle und langfristige Trends in der Region und Entwicklungsrichtungen dargestellt und diskutiert. 37 der 80 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus der Region stimmten in dem Zusammenhang darüber ab, welche Entwicklungsszenarien sie für realistisch erachten. Das Ergebnis zeigt, dass die regionalen Akteure für die Gesamtregionen in den nächsten Jahren (bis 2030) von einem moderaten bis starken Bevölkerungswachstum ausgehen.

Der Zusatzbedarf an Wohneinheiten in der Region Halle-Leipzig wird nachfolgend für das Szenario ermittelt, welches insgesamt von einer Zuwanderung von rund 60.000 Personen16 bis 2030 ausgeht („starkes Wachstum“). Unter Berücksichtigung der Vorausberechnungen sowie von Konsultationen mit lokalen Expertinnen und Experten (Interko2 2022: 7, 47) wird dabei davon ausgegangen, dass der Großteil des Bevölkerungszuwachses auf die Stadt Leipzig entfallen wird. Dafür wurden unterschiedliche Grundannahmen zur Berechnung genutzt (vgl. Kapitel 3.2), welche für die regionalen Gruppen separat gebildet werden und auf Daten der Statistischen Landesämter Sachsen und Sachsen-Anhalt basieren.

4.3  Steuerung des Zusatzbedarfes in der Region Halle-Leipzig

4.3.1  Grundannahmen für die Region Halle-Leipzig

Prüforteansatz  
Zur Herleitung des in Kapitel 3.2 vorgestellten additiven Index der Prüforte wurden die in Tabelle 4 aufgeführten Schwellenwerte und Punktwerte genutzt.
Tabelle 4 Prüfkriterien und beispielhafte Schwellenwerte des Prüforteansatzes

Prüfkriterium/Beschreibung

Punkte

Bevölkerung

Einwohnerinnen und Einwohner im Kernort

> 3.000 Einwohnerinnen/Einwohner

5 Punkte

1.501 bis 3.000 Einwohnerinnen/Einwohner

3 Punkte

1.000 bis 1.500 Einwohnerinnen/Einwohner

1 Punkt

Erreichbarkeit

Anschluss an den Schienenpersonennahverkehr

vorhanden

1 Punkt

Fahrtdauer ÖPNV

Fahrzeiten mit S‑/Regionalbahn/Plus-Bus < 30 min

5 Punkte

Fahrzeiten mit S‑/Regionalbahn 30 bis < 45 min

3 Punkte

Fahrzeiten mit S‑/Regionalbahn/Plus-Bus 45 bis < 60min

1 Punkt

Fahrtdauer motorisierter Individualverkehr

Fahrzeit < 20 min

3 Punkte

Fahrzeit 21 - 30 min

1 Punkt

Fahrzeit 31 - 45 min

0,5 Punkt

Fahrtenhäufigkeit ÖPNV

mehr als 2 Fahrten pro Stunde

3 Punkte

2 Fahrten pro Stunde

1 Punkt

1 Fahrt pro Stunde

0,5 Punkt

Ausstattung

Bildungsinfrastruktur

mindestens 1 Grundschule; mindestens 1 weiterführende Schule; mindestens 1 Kita

3 Punkte

mindestens 1 Schule (Grundschule, weiterführende Schule); mindestens 1 Kita

1 Punkt

Nahversorgung

mindestens 1 Supermarkt/Discounter > 800 m2 Verkaufsfläche, mindestens 1 Supermarkt/Discounter 400-800 m2 Verkaufsfläche; mindestens 1 Supermarkt/Discounter > 2.000 m2 Verkaufsfläche

3 Punkte

mindestens 2 Supermarkt/Discounter > 800 m2 Verkaufsfläche; Supermarkt/Discounter 400-800 m2 Verkaufsfläche; Supermarkt/Discounter > 2.000 m2 Verkaufsfläche

1 Punkt

Medizinische Versorgung

≥ 5 Hausärztinnen/Hausärzte und 3 Einrichtungen (Zahnärztin/Zahnarzt; Apotheke; Pflegeheim)

4 Punkte

2‑4 Hausärztinnen/Hausärzte und 3 Einrichtungen (Apotheke; Pflegeheim)

3 Punkte

2‑4 Hausärztinnen/Hausärzte und 1‑2 Einrichtungen (Apotheke; Pflegeheim)

2 Punkte

1 Hausärztin/Hausarzt und mindestens 1 Einrichtung (Apotheke; Pflegeheim)

1 Punkt

Funktion

Zentralörtliche Funktion

Mittelzentrum

3 Punkte

Grundzentrum

2 Punkte

Teil eines grundzentralen Verbundes

1 Punkt

Ab 20 Punkten zählt eine Kommune zur ersten Prüfortestufe. Die Einteilung in die zweite bzw. dritte Stufe erfolgt ab 15 bzw. ab zehn Punkten. Kommunen, die weniger als zehn Punkte erreicht haben, zählen als Eigenentwicklungskommunen. Insgesamt konnten in der Region auf diese Weise 19 Kommunen der Stufe 1, 16 Kommunen der Stufe 2 und zehn Kommunen der Stufe 3 identifiziert werden (vgl. Abbildung 2). Sie eignen sich prinzipiell für die Aufnahme von Zuwandernden.
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Abbildung 2 Raumtypen und Prüforte in der Untersuchungsregion Halle-Leipzig

Raumtypen  
Weiterhin wurden aufgrund der heterogenen demographischen Entwicklungen und räumlicher Unterschiede (z. B. hinsichtlich der Baustruktur) Gemeinden mit ähnlicher Struktur und Entwicklungsdynamiken für die Analyse und Anwendung des Ansatzes in den vorgeschlagenen Raumtypen zusammengefasst. So wird – wie oben vorgeschlagen – im Zusammenhang mit der Steuerung der Wanderungsgewinne in die Gruppen Oberzentren, Verflechtungsraum, Mittelzentraler Ring und Weiteres Umland unterschieden (vgl. Abbildung 2). Unter Berücksichtigung der in Kapitel 3.2 genannten Kriterien (geographische Lage zum Oberzentrum, zentralörtliche Funktion, Nahwanderungsgewinne aus dem Oberzentrum, Pendlerverflechtungen mit dem Oberzentrum und kommunale Arbeitsplatzdichte) ergeben sich in diesem Zusammenhang neben dem Oberzentrum drei weitere Raumtypen:
– 
Verflechtungsraum: Gemeinden dieser Kategorie sind geprägt durch eine positive Bevölkerungsentwicklung, einem Nahwanderungsgewinn gegenüber dem Oberzentrum und ihre räumliche (angrenzende) Nähe zum Oberzentrum, die sich auf ihre Wohnstandortfunktion auswirkt.
– 
Mittelzentraler Ring: In der Region findet sich ein „Ring“ aus Mittelzentren, die aufgrund ihrer Größe und Struktur wichtige Versorgungsfunktionen für ihr Umland wahrnehmen und über Verbindungen zum Oberzentrum verfügen, die Kriterien für den Verflechtungsraum jedoch nicht vollständig erfüllen.
– 
Weiteres Umland: Die Gruppe umfasst Gemeinden, die nicht alle Kriterien des Verflechtungsraumes erfüllen bzw. Mittelzentren, die außerhalb des Ringes liegen und dementsprechend keine signifikante Verbindung zum Oberzentrum aufweisen.
Rechnerische Haushaltsgröße  
2019 lag die Haushaltsgröße in allen Raumtypen noch bei durchschnittlich 2,1 Personen pro Haushalt (für Sachsen-Anhalt: Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt 2020: 29).17 Im Verflechtungsraum wird 2030 eine durchschnittliche Haushaltsgröße von 2,1 Personen pro Haushalt erwartet, während diese im Mittelzentralen Ring und im Weiteren Umland voraussichtlich bei 2,0 Personen pro Haushalt liegen wird. Neben Studienergebnissen (empirica 2018; empirica 2019) wurde zur Einschätzung der Entwicklung der Haushaltsgrößen (Bestand) die Meinung von regionalen Expertinnen und Experten eingeholt (Interko2 2022: 32). Aufgrund der Aussagen von Vertreterinnen und Vertretern der Stadt Leipzig und der Analyse umgesetzter Wohnungsneubaustandorte in der Region in allen Raumtypen wird unterstellt, dass der durchschnittliche Zuzug im Segment der Ein- und Zweifamilienhäuser drei Personen je Haushalt umfasst. Im Segment der Mehrfamilienhäuser ist dagegen von einem Wert von 1,75 Personen je Haushalt auszugehen, wenn eine Wohnung neu bezogen wird.
Verteilung Ein‑, Zwei- und Mehrfamilienhäuser  
Die der prozentualen Verteilung des Zuzugs in Ein- und Zweifamilienhäuser beziehungsweise Mehrfamilienhäuser zugrunde gelegten Werte in Tabelle 5 ergeben sich aus der Verteilung der Baufertigstellungen18 und der Einschätzung von regionalen Expertinnen und Experten im Bereich Wohnen (Interko2 2022: 22). Sie variieren mit der Raumkategorie: Demnach verzeichnet der Mittelzentrale Ring für 2020 mit 12,3 Wohneinheiten/Mehrfamilienhaus die größte Zahl von Wohnungen je Gebäude.19 Im Verflechtungsraum beläuft sich dieser Wert dagegen auf 6,6 Wohneinheiten/Mehrfamilienhaus, im Weiteren Umland sogar nur auf 6,2 Wohneinheiten/Mehrfamilienhaus.
Tabelle 5 Grundannahmen für die Verteilung des Zuzugs nach Wohnformen sowie Dichtewerte in der Region Halle-Leipzig
 

Verteilung des Zuzugs nach Wohnformen

(Bau‑)Dichte

 

Flächensparend

Umsetzungsorientiert (Basis: Struktur der Baufertigstellungen)

Flächensparend

Umsetzungsorientiert

Ein- und Zweifamilienhäuser

Mehrfamilienhäuser

Ein- und Zweifamilienhäuser

Mehrfamilienhäuser

Verflechtungsraum

50 %

50 %

85 %

15 %

Ein- und Zweifamilienhäuser

500 m2/Wohneinheit

667 m2/Wohneinheit

Mehrfamilienhäuser

200 m2/Wohneinheit

250 m2/Wohneinheit

Mittelzentrum

30 %

70 %

60 %

40 %

Ein- und Zweifamilienhäuser

320 m2/Wohneinheit

400 m2/Wohneinheit

Mehrfamilienhäuser

167 m2/Wohneinheit

222 m2/Wohneinheit

Weiteres Umland

55 %

45 %

90 %

10 %

Ein- und Zweifamilienhäuser

667 m2/Wohneinheit

1.000 m2/Wohneinheit

Mehrfamilienhäuser

250 m2/Wohneinheit

286 m2/Wohneinheit

Baudichte  
Die Annahmen zur durchschnittlichen Bebauungsdichte bei Ein‑, Zwei- und Mehrfamilienhäusern sowie zu den durchschnittlichen Grundstücksgrößen für die beiden Gebäudetypen, die benötigt werden, um den abschließenden Flächenabgleich vorzunehmen, werden in zwei Varianten angesetzt (vgl. Tabelle 5): in einer umsetzungsorientierten, die bisherige Struktur der Baufertigstellungen widerspiegelnden und in einer flächensparenden Variante (auf Basis von Schmidt/Seidel/Grosskopf 2014; BSBK 2018; NVK 2018). In der umsetzungsorientierten Variante werden im Weiteren Umland 90 % der zu erwartenden zuziehenden Bevölkerung auf Ein- und Zweifamilienhäuser rechnerisch verteilt, die im Durchschnitt eine Grundstücksgröße von 1.000 m2 aufweisen. In der flächensparenden Variante finden nur 55 % des Zuzugs im Weiteren Umland in den Sektor der Ein- und Zweifamilienhäuser statt, wobei die Dichte mit 667 m2/Wohneinheit deutlich höher angesetzt wird.

4.3.2  Rechnerischer Anteil der Prüforte an den Wanderungsgewinnen der Region Halle-Leipzig

Die Berechnung der Zusatzbedarfe folgt den Raumtypen – vom Verflechtungsraum über den Mittelzentralen Ring bis zum Weiteren Umland – und innerhalb derselben den verschiedenen Prüfortstufen (vgl. Abbildung 2).

Die nachfolgende rechnerische Verteilung beginnt im Verflechtungsraum bei den Prüforten der Stufe 1. Im Rahmen der Prüfortebewertung konnten 13 Gemeinden aus dem Verflechtungsraum dieser Stufe zugeordnet werden. Auf diese Gemeinden wurde zunächst der für den Verflechtungsraum ermittelte Zusatzbedarf von rund 10.000 Einwohnerinnen und Einwohnern rechnerisch verteilt. Die Verteilung richtete sich dabei nach dem Anteil der Bevölkerung im Kernort des jeweiligen Prüfortes erster Stufe an der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Raumtyps.

Anschließend wurden die Arbeitsmarktkennziffern (vgl. Tabelle 2) genutzt, um Quartile zu bilden. Bei der Zugehörigkeit einer Gemeinde zum zweiten und dritten Quartil wurde davon ausgegangen, dass ihre wirtschaftliche Stärke eine zusätzliche Zunahme der Bevölkerung bedingt und der Wohnbauflächenbedarf entsprechend höher ausfällt (vgl. Tabelle 6). Entsprechend der flächensparenden bzw. umsetzungsorientierten Variante werden die Zuzüge in Wohneinheitenbedarfe in Ein- und Zweifamilienhäuser sowie Mehrfamilienhäuser abgeleitet. Insgesamt würde der Zusatzbedarf von 10.000 EW laut Szenario in den Prüforten der Stufe 1 im Verflechtungsraum bei der umsetzungsorientierten Variante einen Bedarf von 2.833 Wohneinheiten im Segment der Ein- und Zweifamilienhäuser und 857 Wohneinheiten im Segment der Mehrfamilienhäuser bis 2030 erzeugen. Bei der flächensparenden Variante wären es 1.667 Wohneinheiten im Segment der Ein- und Zweifamilienhäuser und 2.857 Wohneinheiten im Segment der Mehrfamilienhäuser.
Tabelle 6 Rechnerische Verteilung des Zusatzbedarfes in den Gemeinden des Verflechtungsraumes (Prüforte 1. Stufe) anhand umsetzungsorientierter Verteilung

Gemeinde

Einwohnerinnen und Einwohner (2020)

Anteil am Raumtyp

Resultierender Wohnungsbedarf

Korrigierter Wohnungsbedarf

Ein- und Zweifamilienhäuser

Mehrfamilienhäuser

Ein- und Zweifamilienhäuser

Mehrfamilienhäuser

Böhlen

5.036

5,8 %

166

50

169

51

Borsdorf

3.927

4,6 %

129

39

122

37

Brandis

3.213

3,7 %

106

32

77

23

Großpösna

3587

4,2 %

118

36

103

31

Markkleeberg

22.980

26,7 %

756

229

826

250

Markranstädt

8.832

10,2 %

290

88

275

83

Naunhof

5.297

6,1 %

174

53

140

42

Pegau

4.008

4,7 %

132

40

96

29

Schkeuditz

12.467

14,5 %

410

124

537

163

Taucha

8.154

9,5 %

268

81

234

71

Landsberg

2.106

2,4 %

69

21

71

21

Schkopau

2.753

3,2 %

91

27

92

28

Teutschenthal

3.821

4,4 %

126

38

92

28

4.3.3  Flächenverfügbarkeiten und nächste Schritte

Um den Flächenbedarf zu ermitteln, wird die Zahl der Wohneinheiten in Ein- und Zweifamilienhäusern sowie in Mehrfamilienhäusern mit den angesetzten Dichtewerten (flächensparend oder umsetzungsorientiert) multipliziert. Bei einer umsetzungsorientierten Verteilung (aktuelle Baufertigstellungen) würde bis 2030 theoretisch eine Gesamtfläche zur Aufnahme der zu erwartenden Wanderungsgewinne von rund 210 ha benötigt. Erfolgt die Verteilung anhand flächensparender Dichtewerte, läge dieser Wert bei rund 140 ha.

Der nächste Schritt wäre nun, die so errechneten Flächenbedarfe den Flächenverfügbarkeiten in den Gemeinden gegenüberzustellen. Sollten die Verfügbarkeiten in der Summe nicht ausreichen, um die Bedarfe zu decken und alle Einwohnerinnen und Einwohner, die im Rahmen des Zusatzbedarfes erwartet werden, unterzubringen, wird die jeweilige Zahl an Einwohnerinnen und Einwohnern anhand derselben Vorgehensweise rechnerisch auf die Prüforte der Stufe 2 bzw. der Stufe 3 im Verflechtungsraum verteilt. Anschließend erfolgt die Berechnung der erwarteten Wanderungsgewinne samt dem gegebenenfalls vorhandenen Übertrag für den Mittelzentralen Ring bzw. für das Weitere Umland. Auch ist ein Übertrag aus den Oberzentren möglich, falls diese den benötigten Wohnraum nicht in voller Höhe zur Verfügung stellen können. Ebenfalls können die Zahlen dynamisch angepasst werden, wenn unvorhersehbare Ereignisse eine Veränderung der Wanderungsdynamik nahelegen. Insgesamt können auf diese Weise klare Bedarfe je Prüfort ermittelt werden, welche der weiteren regionalen Abstimmung bei der Wohnbauflächenausweisung als Grundlage dienen können.


5  Fazit

Die aktuellen Regelungen zur Aufnahme von Wanderungsgewinnen auf den Ebenen der Landes- und Regionalplanungen bieten weder formell noch informell eine verlässliche Handhabung, eine ungeordnete Flächeninanspruchnahme sinnvoll einzudämmen. Weil Eigen- und Zusatzbedarfe vielfach nicht hinreichend definiert werden, es an Anreizen zur interkommunalen Abstimmung mangelt und Sanktionsmöglichkeiten im Falle eines Abweichens selten Anwendung finden, kommt es in praxi vielfach zu einer ungeregelten und damit vielfach nicht nachhaltigen regionalen Wohnbauflächenentwicklung, die vor allem individuellen kommunalen Belangen geschuldet ist. Gerade auch in Anbetracht der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung scheint es dringend geboten, dass die Landes- und Regionalplanung steuernd eingreift, um die Flächen(neu)inanspruchnahme auf ein verträgliches Maß zu senken und langfristig eine flächendeckende Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Konkret gilt es in diesem Zusammenhang, die sich aus Wanderungen ergebenden Flächenbedarfe nachvollziehbar zu ermitteln und deren Ausmaß im regionalen Austausch regelmäßig zu evaluieren, um im Interesse der Raumplanung eine konkrete interkommunale Zuordnung von Wohnflächenbedarfen vornehmen bzw. fortschreiben zu können.

Der vorgestellte Ansatz bietet einen Orientierungsrahmen, der in der Regionalplanung als Berechnungsgrundlage berücksichtigt werden könnte. Die mit seiner Hilfe ermittelten Bedarfsgrößen bieten innerhalb der betreffenden Region (hier Halle-Leipzig) eine informelle Diskussionsgrundlage, die unterschiedliche Entwicklungsperspektiven zur regionalen und kommunalen Flächenbedarfsplanung aufzeigt und zeitgleich den Problemen vorbeugt, die mit einem Mangel an Allokationsvorschlägen einhergehen. Da der Ansatz in seinem Aufbau stark datenbasiert ist, sind die Ergebnisse in ein geeignetes Diskussionsformat auf regionaler Ebene zu überführen und anschließend entsprechend zu kommunizieren. Auf dieser Basis kann es gelingen, „Wachstumsmüdigkeiten“ einzelner Kommunen frühzeitig aufzubrechen. Darüber hinaus wird es sowohl den Gemeinden als auch der Regionalplanung erleichtert, Bedarfe, welche unter Berücksichtigung der Bodenschutzklausel nach § 1a Abs. 2 BauGB nachzuweisen sind, gegenüber Dritten zu artikulieren. Dies gilt umso mehr, als die stringente Orientierung des Ansatzes an den geltenden Zielen der Raumordnung gewährleistet, dass sich die abgestimmten Bedarfe in einen formellen Rahmen (z. B. über § 204 BauGB) überführen lassen.

Die erfolgreiche Implementierung des Ansatzes in der Praxis setzt voraus, dass die Grundlagendaten zur Bevölkerung, zum Arbeitsmarkt und den Bautätigkeiten regelmäßig aktualisiert werden. Um die Veränderungen in der regionalen Entwicklung frühzeitig abbilden und auf diese mit Hilfe des Ansatzes adäquat reagieren zu können, sind auch die getroffenen Annahmen regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen. Da die meisten der genutzten Daten von der amtlichen Statistik bereitgestellt werden, halten sich die Kosten und der Aufwand für die Anwendung des Modells in Grenzen.

Zukünftig gilt es, das Modell auf seine Übertragbarkeit zu überprüfen und mit den jeweiligen regionalen Planungsverbänden zu eruieren, wie es in die Praxis der Regionalplanung eingebunden werden kann. Nach der Region Halle-Leipzig wird das Modell in einem nächsten Schritt auf Jena und den angrenzenden Saale-Holzland-Kreis angewandt, um es dort auf seine Vereinbarkeit mit einer unterschiedlich strukturierten Region zu erproben. Darüber hinaus gilt es auch zu prüfen, wie der Übertrag auf eine schrumpfende oder auf eine stärker von Polyzentralität geprägte Region erfolgen kann. Weiterer Forschungsbedarf besteht hinsichtlich der Analyse der Geeignetheit weiterer Indikatoren. So sollte eine detailliertere Berechnung von Arbeitsplatzdynamiken mit ihren weitreichenden Folgen für die Region konzipiert werden mit dem Ziel, die Bedeutung einer positiven Arbeitsplatzentwicklung auf den Wohnungsmarkt besser abbilden zu können. Auch die Fragen, welche Verbindlichkeiten sich mithilfe des Modells auf der Ebene der Regionalplanung schaffen lassen und welche regionalen Kommunikations- bzw. Kooperationsformate geeignet scheinen, eine regionale Wohnbauflächenbedarfsplanung zu verstetigen oder strittige Themen zu verhandeln, verdienen nähere Beachtung.

Offen bleibt, ob eine dezentrale Wohnbauflächenbereitstellung durch die Gemeinden langfristig überhaupt als zielführend angesehen werden kann. Bereits bestehende kooperative Ansätze in unterschiedlichen Ausformungen (z. B. Kommunalverbund Niedersachsen-Bremen e.V., KielRegion GmbH oder Zweckverband Raum Kassel) deuten darauf hin, dass ein abgestimmtes Vorgehen einen sinnvollen Beitrag zur resilienten Entwicklung der jeweiligen Region leisten kann. Ein stärker auf regionaler Abstimmung beruhendes Vorgehen könnte daher zusätzlich helfen, Flächenbedarfe in der Region besser einzuordnen und einer übermäßigen Flächeninanspruchnahme entgegenzuwirken – auch wenn dies die Wohnbauflächenbereitstellung als rein kommunale Angelegenheit grundsätzlich in Frage stellt.

Acknowledgement  
We would like to thank two anonymous reviewers and the Interko2 team for their helpful comments.
Funding  

This work is part of the research project Interko2, which is funded by the programme: Stadt-Land-Plus. Funding agency: Federal Ministry of Education and Research (Germany); Funding code: 033L207

Competing interest  
The authors declare no competing interests.


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Fußnoten

1https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Flaechennutzung/Tabellen/siedlungsflaeche.html (23.09.2022).
2https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Flaechennutzung/Tabellen/anstieg-suv2.html;jsessionid=F4049006A905CC3F5BCDFCD6B2A8C071.live712 (23.09.2022).
3Raumordnungsgesetz vom 22. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2986), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 20. Juli 2022 (BGBl. I S. 1353) geändert worden ist.
4Baugesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. November 2017 (BGBl. I S. 3634), das zuletzt durch Artikel 11 des Gesetzes vom 8. Oktober 2022 (BGBl. I S. 1726) geändert worden ist.
5In einigen Regionalplänen wurden Instrumente zur Kategorisierung des Geltungsbereiches geschaffen. Sofern dies in einer Planungsregion nicht der Fall ist, wird vorgeschlagen, eine raumstrukturelle Abgrenzung der Gemeinden gemäß dem hier vorgeschlagenen Ansatz vorzunehmen.
6https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (22.09.2022).
7https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (22.09.2022).
8https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (22.09.2022).
9https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (22.09.2022).
10https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data; https://statistik.sachsen-an-halt.de/fileadmin/Bibliothek/Landesaemter/StaLa/startseite/Themen/Bevoelkerung/Tabellen/Bevoelkerungsprognose/6_-Bevoelkerungsprognose-2014-2030-Kreise-Altersgruppen.pdf (22.09.2022).
11https://www.inkar.de/Default (22.09.2022).
12https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (22.09.2022).
13https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (22.09.2022).
14https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (22.09.2022).
15Die auf diese Weise ermittelten Zahlen wurden teils korrigiert (im Verflechtungsraum für die Jahre 2019 und 2020 nach unten, im Mittelzentralen Ring nach oben), da die tatsächliche Entwicklung von der Prognose abwich. Weitere Anpassungen wurden aufgrund der Aussagen von parallel erstellten städtischen Bevölkerungsvorausberechnungen, eines Demographiemonitorings des Saalekreises und aufgrund der bisher zu optimistisch ausgefallenen regionalen Prognosen vorgenommen.
16Berücksichtigt man die überwiegend negative natürliche Bevölkerungsentwicklung in der Region und die daraus freiwerdenden Wohneinheiten, fällt der Zusatzbedarf in den ermittelten Szenarien deutlich geringer aus.
17Für Sachsen: https://www.statistik.sachsen.de/genonline/online (22.09.2022).
18https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/ (22.09.2022).
19https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/ (22.09.2022).