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https://doi.org/10.14512/rur.831
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Rezension / Book review

Glatter, Jan; Mießner, Michael (Hrsg.) (2021): Gentrifizierung und Verdrängung. Aktuelle theoretische, methodische und politische Herausforderungen

Frank Eckardt Contact Info

(1) Professur für sozialwissenschaftliche Stadtforschung, Bauhaus Universität Weimar, Belvederer Allee 4, 99425 Weimar, Deutschland

Contact InfoProf. Dr. Frank Eckardt 
E-Mail: frank.eckardt@uni-weimar.de

Eingegangen: 1. Juni 2022  Angenommen: 16. Juni 2022  Online veröffentlicht: 18. Juli 2022


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Der Wasserturmplatz am Prenzlauer Berg wird in Enno Stahls Roman „Sanierungsgebiete“ zum zentralen Ort, an dem er „zeigt […], wie die Gentrifizierung den Menschen zunehmend die Partizipation am urbanen Leben versagt […]. Dies tut er als Erzähler, doch in die Geschichten seiner Figuren bettet er immer wieder historische Exkurse, Statistiken und Interviews mit realen Menschen ein, die die Umwandlung ihrer Straßen erleben müssen“ (Stahl 2019: Klappentext). Wie in der Literatur hat sich inzwischen in den unterschiedlichsten Öffentlichkeiten ein Verständnis von Gentrifizierung eingenistet, mit einer erstaunlichen Verbreitungsgeschichte – die noch zu schreiben ist und die vermutlich viel über den Zusammenhang von gesellschaftlichen Beobachtungen, öffentlicher Reflexion und der Konstruktion von Narrativen eröffnen könnte. In der Soziologie geht man seit Anthony Giddens’ Vorschlag, das Verhältnis zwischen soziologischer Theoriebildung und öffentlichem Diskurs sich als eine doppelte Hermeneutik vorzustellen (Giddens 1988), davon aus, dass die Soziologie ihre Begriffsbildung anhand der Beobachtung der gesellschaftlichen Produktion von Hermeneutik vollzieht und dem eine eigene gegenüberstellt und somit der Gesellschaft eine informierte Selbstreflexion anbietet. Angesichts dessen, dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Gentrifizierung nun auch in literarischer Verarbeitung weit fortgeschritten zu sein scheint, wäre eine solche Verdoppelung der Hermeneutik durch die Soziologie schon lange überfällig.

Aus diesem Grunde ist die Erwartungshaltung an einen Sammelband mit dem Titel „Gentrifizierung und Verdrängung“, der den Stand der Gentrifizierungsforschung übersichtlich aufarbeitet und „aktuelle theoretische, methodische und politische Herausforderungen“ (so der Untertitel) identifizieren will, groß. Um es vorweg zu sagen: Ja, dieser Band erfüllt diese Erwartung. Den Herausgebern Jan Glatter und Michael Mießner ist es gelungen, den aktuellen state of the art mit 17 thematisch fokussierten Beiträgen zusammenzutragen und in zwei einleitenden Kapiteln den Stand der deutschen Gentrifizierungsforschung und damit den akademischen Entwicklungsprozess dieses disziplinenübergreifenden Forschungsfeldes darzustellen. Irritierend ist einzig, dass ein Beitrag eines Lokalpolitikers aus Berlin ohne kritische Kommentierung aufgenommen wurde. Insgesamt lassen sich in diesem Sammelband die Schwerpunkte der aktuellen Gentrifizierungsforschung in Deutschland – es sind auch zwei sehr lesenswerte Beiträge aus Wien und Budapest darunter – erkennen und es wird deutlich, in welchen theoretischen Kontexten über Gentrifizierung geforscht wird und welche nach wie vor großen Desiderate es gibt. Ein Fazit, das diese noch einmal benennt, hätte man sicherlich am Ende dieses Bandes gerne gesehen. Es würde dem Eindruck entgegenwirken, dass nicht nur die Öffentlichkeit sich zu dem Thema fragmentiert, sondern sich auch das „Chaos der Gentrifizierung“, wie es der amerikanische Stadtforscher Robert Beauregard schon 1986 beklagte, nicht weiter fortsetzt, sondern sich manche Linien von Forschungstraditionen fortspinnen, andere sich scheinbar totgelaufen haben und andere wiederum neue Einsichten versprechen.

Die Herausgeber deuten eine solche Entwicklung des Forschungsfeldes in ihrer Einleitung zumindest an. Sie versuchen eine Strukturierung der Forschungslandschaft, die nach Andrej Holm (2012) schon mehr als 1.000 Studien umfassen soll. Jan Glatter und Michael Mießner benennen sechs Diskussionsstränge, anhand derer sich die Forschung zu Gentrifizierung entwickelt hat. Diese begann mit den sozialökologisch inspirierten Arbeiten von Jürgen Friedrichs, die auf die Untersuchung von Akteurgruppen wie Pioniere und „Gentrifier“ ausgerichtet war. In einem zweiten Diskursstrang lässt sich dann ein weiter gefasstes Gentrifizierungsverständnis auffinden, das nach unterschiedlichen Formen von Verläufen und Akteuren der Gentrifizierung forschte. Dem folgt ein dritter Strang, der die diskursive und symbolische Dimension in die Forschung einbringt und sich von einem vierten abgrenzen lässt, der sich vor allem auf die rent gap-Theorie Neil Smiths (Smith 1979) als Ausgangspunkt bezieht und insbesondere von Matthias Bernt – auch mit einem Beitrag in diesem Sammelband – in Verbindung mit institutionellen Einbettungsprozessen (Kommodifizierung) gesetzt wird. Fünftens wird diese Perspektive wiederum durch eine Kontextualisierung von Gentrifizierungsprozessen in die aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrisen eingeordnet und als „financialized gentrification“ konzeptionalisiert. Dieser Ansatz ist durch einen Beitrag von Bernd Belina vertreten, dem angesichts der Komplexität dieses Ansatzes ein prägnanter Übersichtsartikel gelungen ist, der in seiner Klarheit und Konsistenz sicherlich viele Leserinnen und Leser überzeugen kann. Michael Janoschka weist daran anschließend in seinem Beitrag auf die demokratietheoretischen Probleme der Finanzialisierung und Gentrifizierung hin. Eine solche politikwissenschaftliche Thematisierung der Gentrifizierung müsste angesichts der zunehmenden Diskrepanz der Wahlbeteiligung in gentrifizierten und benachteiligten Stadtteilen dringend fortgesetzt werden.

Interessanterweise sehen die Herausgeber in einem sechsten Forschungsdiskurs eine besonders auf Verdrängungsprozesse fokussierte Studienlage sich aktuell konstituieren. Hier drängt sich natürlich die Frage auf, die auch schon beim ersten Blick auf den Titel des Bandes auftreten kann, warum eigentlich „Gentrifizierung und Verdrängung“ als getrennte Begrifflichkeiten gehandhabt werden. Keiner der sechs Diskurse schließt Verdrängung konzeptionell als Folge von Gentrifizierung aus, aber es ist bemerkenswert, dass bis dato eine empirische Fokussierung auf die Verdrängung in der Tat kaum in der (deutschen) Gentrifizierungsforschung stattgefunden hat. Dies hat vor allem auch methodische Gründe, insbesondere in Bezug auf die schwierige Datenlage auf kleinteiliger Ebene hierzulande. Die große und hervorzuhebende Ausnahme ist die Arbeit von Fabian Bernd und Henning Nuissl, die eine repräsentative Befragung aus dem Jahre 2015 in zwei Berliner Stadtteilen durchgeführt haben. Ähnlich aufschlussreich sind auch die Frankfurter Fallstudien von Sebastian Schipper zu dem Verdrängungsprozess durch das Wohnungsunternehmen Vonovia im Gallusviertel, auch wenn hier nichts über die Lage der Verdrängten erfahrbar wird. Mehr wissen wir nach wie vor über die, die zuziehen und die Gentrifizierung betreiben, wie Jörg Blasius in seinen Interviews anhand von Köln demonstriert. Zurecht weist Moritz Rinn in seinem Beitrag nach, dass eine „Gentrifizierungsforschung von unten“ erst noch beginnen muss und dass diese dringend ist, nicht zuletzt um lokale (Nicht‑)Konflikte der Verdrängung verstehen zu können. Die Herausgeber sehen in ihrer Rekapitulation der deutschen Gentrifizierungsforschung zumindest den Trend hin zu einer, stärker den politischen Rahmen reflektierenden Forschung, die sich aber – so die Einschätzung des Autors – eventuell noch nicht explizit genug mit einer weitergehenden Frage nach Demokratie und Stadt verbindet.

Das Spektrum der Gentrifizierungsforschung in Deutschland hat sich, wie der Band belegt, teilweise profitierend durch Forschung aus anders fokussierten Studien, in den letzten Jahren erheblich erweitert. Hierfür sind der Beitrag von Gisela Machenroth über „Rechte Ressentiments im Aufwertungsprozess“ und Annegret Haases und Anika Schmidts Text zur „Grünen Gentrifizierung“ eindrucksvolle Beispiele. Die ländliche Gentrifizierung wird des Weiteren von Michael Mießner und Matthias Naumann als vielversprechendes Thema für zukünftige Forschung gesehen, auch wenn sie ihrem Beitrag im Titel noch ein Fragezeichen anfügen. Angesichts dieser Aufweitung des Spektrums der Themen in der Gentrifizierungsforschung stellt sich wiederum die Eingangsfrage, ob sich durch das Sammeln dieser unterschiedlichen Beiträge eine weitere Chaotisierung einstellt oder sich ein neues Narrativ formulieren lässt, das tatsächlich eine gesellschaftliche Orientierung bieten kann. Während Schriftsteller wie Enno Stein sich um eine Aufnahme der soziologischen Hermeneutik bemühen, findet eine explizite Auseinandersetzung mit den Annahmen der Gesellschaft über das, was diese für Gentrifizierung hält, nur indirekt in der Rezeption lokaler Diskussionen statt. Eine Verdoppelung der gesellschaftlichen Hermeneutik über Gentrifizierung kann naturgemäß nur ansatzweise durch einen Sammelband erfolgen. Zu diskutieren wäre demnach aufbauend auf diesen Band, in welchem Verhältnis Gentrifizierung zu Prozessen der Segregation, der Dynamiken sozialer Ungleichheit, der Peripherisierung und Verarmung steht.

Vollständige bibliographische Angaben des rezensierten Werkes:  
Glatter, Jan; Mießner, Michael (Hrsg.) (2021): Gentrifizierung und Verdrängung. Aktuelle theoretische, methodische und politische Herausforderungen. Bielefeld: transcript Verlag. 396 Seiten, 23 Abbildungen


Literatur

Beauregard, R. (1986): The chaos and complexity of gentrificaton. In: Smith, N.; Williams, P. (Hrsg.): Gentrification of the city. Boston, 35-55.
 
Giddens, A. (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main.
 
Holm, A. (2012): Gentrifizierung. In: Eckardt, F. (Hrsg.): Handbuch Stadtsoziologie. Wiesbaden, 661–688.
 
Smith, N. (1979): Toward a Theory of Gentrification: A Back to the City Movement by Capital, not People. In: Journal of the American Planning Association 45, 4, 538–548. https://doi.org/10.1080/01944367908977002
 
Stahl, E. (2019): Sanierungsgebiete. Berlin.